Das Kindeswohl und das persönliche Engagement
in der sozialen Arbeit


Der „Bremer Fall“ hat nicht nur in der Fachöffentlichkeit eine längst überfällige Diskussion darüber ausgelöst, welche Verantwortung das Jugendamt bzw. der einzelne Mitarbeiter des Juge ndamtes für das Wohlergehen eines Kindes hat. Seit über 25 Jahren biete ich Fortbildung und Beratung für MitarbeiterInnen von Jugendämtern in ganz Deutschland an. Mein Eindruck ist schon seit einigen Jahren, dass es immer weniger MitarbeiterInnen geworden sind, die sich noch persönlich engagieren. Immer mehr „altgediente“ KollegInnen haben sich mehr oder weniger frustriert „hinter ihren Schreibtisch“ zurückgezogen. Viele junge Kollegen sind unsicher und orientieren sich eher an der Sicherheit von Formalien, statt sich in das persönliches Risiko der direkten Arbeit mit dem Einzelfall zu stürzen. In ihrer Zurückhaltung werden sie wohlwollend von allen unterstützt, denen die Ausgaben für die Jugendhilfe zu hoch erscheinen. Allerdings wäre es verkürzt, das Problem der Zurückhaltung der KollegInnen in den Jugendämtern allein auf den finanziellen Rechtfertigungsdruck zu schieben, dem sie ausgesetzt sind. Auch wäre es ungerecht, dem Einzelnen die persönliche Schuld allein zuzuschreiben. Ich sehe die Ursachen viel mehr in einem schon vor vielen Jahren einsetzenden Verlust einer pädagogischen Idee und überhaupt eines Menschenbildes als Grundlage der sozialen Arbeit. Dieses möchte ich in einigen Thesen darstellen.

1. Schon in den 70er Jahren hat ein Trend eingesetzt, persönliches Engagement in der sozialen Arbeit als „unprofessionell“ darzustellen. Professionalität hatte immer rational begründbar zu sein. Im Umgang mit einem „Fall“ sollte der Profi prinzipiell austauschbar sein.

2. In der sozialen und pädagogischen Arbeit kümmerte man sich immer weniger um ein „Kind“, um einen „Mann“ oder eine „Frau“ also nicht mehr um eine Person sondern um ein „Symptom“.

3. Daraus entstand in den 80er Jahren fast zwangsläufig, dass „Therapie“ (welcher Couleur auch immer) zur ultima ratio pädagogischen Handelns wurde.

4. Unterstützt wurde dieser Prozess dadurch, dass in den öffentlich diskutierten Ideologien in dieser Zeit das Kind zum „Partner“ der Eltern aufstieg und dass als höchster Wert an die Stelle der elterlichen Liebe und Fürsorge die „partnerschaftliche Diskussion“ mit dem Kind trat.

5. Der „Professionalisierung“ zusammen mit der „KindalsPartnerIdeologie“ waren die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie und insbesondere der Bindungstheorie, nach der ein Kind eine liebvolle Bindung an einen erwachsenen Menschen braucht, ein Dorn im Auge. Sie wurden mit ideologischen Argumenten wie „antiquierte Mutterideologie“ diskreditiert und gerieten in Vergessenheit. (Die Bücher von Bowlby wurden erst in diesem Jahr (2006) wieder aufgelegt, nachdem die Bindungstheorie von der Hirnforschung quasi neu entdeckt wurde.)

6. Im weiteren Verlauf ging in der pädagogischen Arbeit nicht nur die Kenntnis darüber verloren, wie ein Kind sich entwickelt, sondern auch die Idee davon, was eigentlich einen (erwachsenen) Menschen ausmacht. (Dies spiegelt sich heute such in den Ausbildungen wider.)

7. Als Zielvorstellung jeder sozialen Arbeit wurde in Folge dessen nicht mehr das „Wohl der einzelnen Person“ angenommen (weil nicht mehr greifbar und beschreibbar), sondern das Erreichen einer allgemeinen „Normalität“ (die allerdings ebenso schwer beschreibbar ist).

8. Der in den 70er Jahren begonnene Trend hat sich nunmehr endgültig etabliert: Entwicklungsstörungen bei Kindern sind „Krankheiten“, die aus dem Kind selbst entste-hen (siehe z.B. ADS/ADHS). Man behandelt sie konsequenter Weise mit Medikamenten. Bei Jugendlichen sind es psychiatrische Störungen, die unter dem Etikett „Borderline“ oder sogar „Psychose“ laufen und mit Psychopharmaka im Rahmen der Psychiatrie behandelt werden.

Welchen Sinn und welchen Wert hat im Anbetracht der stichwortartig dargestellten Entwicklung eine soziale Arbeit von „Mensch mit Mensch“ noch? Die SozialarbeiterIn, die ErzieherIn, die persönlich und mit emotionalem Engagement arbeitet, wird aus den „eigenen Reihen“ der Profis für unfähig und unprofessionell gehalten. Sie wird von den öffentlich diskutierten Erziehungsideologien in Frage gestellt. Also schwenkt sie in den Mainstream ein. Wenn man sich aber im therapeutischen Sinne ausschließlich im die Be hebung von Defekten kümmert, geht die Fähigkeit verloren, zwischen „Kindeswohl“ und „Erwachsenen bzw. Elternwohl“ zu unterscheiden.

In Anbetracht des „Bremer Falles“, der ja beileibe kein Einzelfall ist, sollten wir viele Elemente unserer sozialen Arbeit und nicht nur der Jugendhilfearbeit überprüfen, z.B.

Welches Menschenbild haben wir?
Was braucht ein Kind für eine gesunde Entwicklung?
Was ist „professionell“?
Welche Bedeutung hat persönliches Engagement in der Sozial und Erziehungsarbeit?
Wie können wir als Gesellschaft persönlich engagierten MitarbeiterInnen Wertschätzung entgegen bringen?

Erst wenn wir diese Fragen beantworten können, lohnt es sich, die Diskussion über die finanziellen Kosten der sozialen Arbeit zu führen. Solange wir sie jedoch nicht beantworten, sitzt nicht nur ein einzelnes Jugendamt oder ein einzelner Sozialarbeiter auf der Anklagebank, sonder wir alle, die wir in der Jugendhilfe arbeiten.

Januar 2007
Helmut Johnson