Das Genogramm in der systemischen Persönlichkeitsanalyse

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Die systemische Persönlichkeitsanalyse (SPA) beschreibt Struktur und Inhalt einer einzelnen Persönlichkeit. Sie hat den Zweck, die Persönlichkeitspotentiale einer Person so zu erforschen und darzustellen, daß die Individualität ihres Handelns für die Person selbst und für den Analysierenden zur Bearbeitung seines Auftrags erkennbar wird. Die SPA kann Bestandteil eines pädagogischen Prozesses, einer psychologischen Beratung, einer therapeutischen Intervention oder einer beliebigen Erforschung persönlicher Ressourcen unter einer bestimmten Fragestellung sein.

Die SPA ist das Produkt der Zusammenarbeit zweier eigenständiger Individuen in den Rollen des Experten und des Klienten.

Abbildung 1

Beide Beteiligten bringen gemeinsam ihre jeweils persönliche Art und Weise, sich selbst in Umwelt und Gesellschaft zu organisieren, in den Prozeß der SPA ein. Darüber hinaus bringt der Experte seine Kenntnisse und Fertigkeiten bezüglich der Erforschung von Inhalten und Strukturen anderer Personen ein, während der Klient Informationen über sich zur Verfügung stellt. Das gemeinsame Produkt entsteht somit aus der Bereitstellung persönlicher Informationen durch den Klienten und der individuell-persönlichen Selektion und Verarbeitung dieser Informationen durch den Experten. Damit enthält die SPA gleichermaßen persönliche Komponenten beider Beteiligten. Die Qualität des Produkts SPA ist in der Hauptsache von zwei Faktoren abhängig: von den Informationen, die der Klient einbringt und von der Fähigkeit des Experten, diese Informationen zu einem
System zu verarbeiten. In der Praxis sind diese Faktoren nicht unabhängig voneinander. Es gehört zur Aufgabe des Experten, Bedingungen zu schaffen, unter denen der Klient ein Maximum an Informationen bereitstellen kann. Dazu braucht der Experte 1. Selbstbewußtsein (im Sinne des Bewußtseins über die eigenen Ressourcen, wie ich es in meiner Begriffsbestimmung von „Selbstbewußtsein“ in meinem Aufsatz „Dialektik der Persönlichkeit“ dargestellt habe (Johnson, 1995)), 2. technische Fertigkeiten, 3. historische und soziologische Kenntnisse und 4. Erfahrung. Das Gewicht dieser vier Komponenten ist gleich. Zur Weiterentwicklung der Qualität der Produkte ist ein Zuwachs bei allen Teilen notwendig.

Das Genogramm

Das Genogramm beinhaltet die Erfassung, Selektion, Analyse und Aufzeichnung von Informationen über ein Familiensystem. Strukturen des Systems und ausgewählte Inhalte werden grafisch dargestellt. In der Regel erfolgt die Aufzeichnung während des Gesprächs mit dem Klienten. Sie erfolgt öffentlich, d.h. für den Klienten sichtbar und nachvollziehbar.

Der Prozeß der Informationsverarbeitung

Die Theorie, auf der die Informationsgewinnung und -verarbeitung der SPA basiert, habe ich in meinem schon erwähnten Aufsatz (Johnson, a.a.O.) dargestellt. Welche Informationen gewonnen und verarbeitet werden, hängt stark von der Wahrnehmung und vom Wissen des Experten ab. Eine Information ist im Sinne einer systemischen Persönlichkeitsanalyse nur dann werthaltig, wenn sie vom Experten früher oder später in die Beschreibung des „Programms“ des Klienten eingefügt werden kann. Bei jeder wahrgenommenen Information ist daher die Frage zu stellen und zu beantworten, wie sie in den historischen Zusammenhang der Entwicklung der Persönlichkeit gesetzt werden kann. Dies bedeutet gegenüber der alltäglichen Informationsverarbeitung im Kontakt mit Menschen und auch gegenüber herkömmlichen therapeutischen oder pädagogischen Denkweisen eine erhebliche Umstrukturierung beim Experten. Während man herkömmlich ein bestimmtes Verhalten oder eine Gefühlsäußerung als eine Reaktion auf einen Einfluß von außen interpretiert und sie für ausreichend beschrieben hält, wenn man den Außenreiz und die Reaktion genau beschreibt, wird man nun zusätzlich die Frage zu beantworten haben, wo das Verhalten seinen Ursprung im „Programm“ der Persönlichkeit hat. Man wird die Beschreibung eines bestimmten Verhaltens in einer bestimmten Situation immer dahingehend weiteruntersuchen, woher es die Person „geerbt“ (im Sinne der Übernahme eines „Programms“) hat, sich in einer solchen Situation so zu verhalten, bzw. welche Teile ihres Verhaltens in diesem Fall „geerbt“ sind. Anfänger in der SPA machen häufig den Fehler, Informationen zunächst zu sammeln, um sie dann später zu einem System zu verarbeiten. Dieses Vorgehen führt dazu, daß eine Fülle von Erscheinungen beschrieben wird, bezüglich deren Systemzusammenhang entscheidende Teilinformationen fehlen. Damit bleiben sie zusammenhanglos und führen dazu, daß der Experte in einem Informationschaos untergeht. Als Reaktion darauf beschließen Experte und Klient nach spätestens einer halben Stunde, die Systemanalyse abzubrechen.

Synthetische und antagonistische Verarbeitung von Gegensätzen

Die Struktur der Ursprungssysteme kann zu synthetischen und antagonistischen Widersprüchen im Programm der Persönlichkeit führen. Synthetische Widersprüche entstehen aus der Unterschiedlichkeit von Vater – und Muttersystem.

Abbildung 2

Antagonistische Widersprüche entstehen aus einer Doppelung z.B.:

Abbildung 3

Bei der systemischen Persönlichkeitsanalyse hat das Aufspüren und die Trennung antagonistischer Widersprüche zentrale Bedeutung; ihre grafische Darstellung ist eine der wichtigsten Aufgaben des Genogramms. Da Doppelungen häufig verborgen oder zumindest nicht bewußt sind, geben uns zunächst inhaltliche Informationen Hinweise auf eine solche Struktur. Antagonismen können sich sehr vielfältig darstellen, und es bedarf einiger Erfahrung und Übung des Experten, ein Verarbeitungssystem zu entwickeln, das die vom Klienten bereitgestellten Informationen nutzt. Es empfiehlt sich, dem Klienten in der 2. oder 3. Sitzung den Unterschied von Synthese und Antagonismus zu erläutern und auch grafisch (wie oben) darzustellen. Es gibt eine Reihe typischer Hinweise auf Antagonismen im Verhalten und in der Entwicklung einer Person. Ich möchte hier stichwortartig einige Beispiele aufführen:

• häufiger Wechsel in Beruf, Partnerschaft, Wohnung
• Abbrechen von Beziehungen zu Verwandten
• Erbstreitigkeiten
• alle psychischen Störungen, auch wenn sie bei Geschwistern auftreten (Neurosen Psychosen, Sucht)
• Dauerstreit zwischen Geschwistern
• große berufliche Unterschiede zwischen Geschwistern (z.B. Hochschulabschluß – Arbeiter)
• Suicidalität.

Man kann von antagonistischen Programmatiken gesteuertes Verhalten in drei Klassen aufteilen

a) Ausstieg aus Identität,
b) Umstieg von einer in eine andere Identität,
c) Auslöschung von Identität.

Das typische Verhalten für „Ausstieg“ besteht darin, daß zunächst auf ein Ziel hingearbeitet wird, kurz vor oder kurz nach Erreichen des Zieles aber Ereignisse oder Verhaltensweisen auftreten, die den erreichten Status negieren (typisch: Abbruch einer Ausbildung kurz vor der Prüfung, Trennung einer Paarbeziehung kurz vor oder nach der Heirat). Die soziale Identität ist erkennbar, wird aber nicht fixiert. Beim „Umstieg“ findet ein Hin- und Herpendeln zwischen mindesten zwei erkennbaren Identitäten statt. Ein Ziel oder Status kann nur erreicht werden, wenn damit ein anderes Ziel oder ein anderer Status im Kontrast steht. Z.B. kann eine stabile Partnerbeziehung nur dann existieren, wenn gleichzeitig eine zweite Beziehung existiert, oder eine Person muss gleichzeitig zur Ausübung eines Berufes mit hohem Sozialstatus ihre Zugehörigkeit zu Personen mit niedrigem Sozialstatus ausleben. Mit der „Auslöschung“ wird Identität negiert. Die Person setzt ihre Energie ein, um zu verhindern, dass bestimmte Einstellungen, Verhaltensweisen, soziale Einordnungen erkennbar werden. Bei bestimmten Formen der Depression und bei Suicidalität wird die Auslöschung auf die gesamte Existenz bezogen.

Hypothesenbildung

Die erforschten Inhalte und die Strukturüberlegungen werden in einer Systemhypothese verbunden. Die Systemhypothese beschreibt das Verhalten als die Verbindung des Programms mit der Umweltanforderung. Dabei berücksichtigt sie die Dialektik der Ursprungssysteme (Vater – und Mutterfamilie) und sie ordnet die Inhalte synthetischen oder antagonistischen Strukturen zu. Die Hypothese wird so formuliert, daß sie durch die Gewinnung zusätzlicher Informationen über das Verhalten des Klienten und über seine Ursprungsfamilien überprüft werden kann. Mit diesem Vorgehen werden anfänglich einfache Hypothesen im Laufe der SPA komplexer und entwickeln sich zu einer differenzierten Beschreibung der Persönlichkeit. Bei der Hypothesenbildung muß besonders darauf geachtet werden, daß Inhalt und Struktur voneinander unabhängige Faktoren sind. Es reicht nicht aus, z.B. eine Doppelung in der Struktur des Systems aufzuzeigen, ohne Inhalte des Verhaltens auf sie beziehen zu können. Andererseits reicht es nicht, einen Antagonismus in den Inhalten zu beschreiben, ohne ihn mit einer Struktur, d.h. mit den Personen einer Doppelung verbinden zu können. Die Inhalte eines Verhaltens lassen sich häufig plausibel mit einem Teil der Ursprungsfamilie z.B. mit dem System der Mutter, in Verbindung bringen. Wenn man bei seiner Hypothese diese Verbindung nicht durch den Bezug zum Vatersystem relativiert, läßt man die entscheidende Komponente für die Dynamik der Identitätsentwicklung unberücksichtigt.

Vorbereitung

Mit wem kann man ein Genogramm entwickeln?

Das Genogramm ist das Produkt (Arbeitsergebnis) zweier voneinander unabhängiger Systeme (Personen). Es kann als solches nur dann entwickelt werden, wenn sich mit dem Experten und dem Klienten zwei selbständige erwachsene Persönlichkeiten gegenüberstehen. Ein Genogramm kann nicht mit einem Kind oder einem geistig behinderten Menschen erstellt werden; es sei denn, seine familiären Bezugspersonen sind in den Prozess einbezogen.

Abbildung 4

Wenn die verantwortliche Personensorge bei einer Person außerhalb der Familie liegt, muss diese berücksichtigt werden.

Die erste Sitzung: Erstkontakt – Erstgespräch

Für das Projekt der Erstellung einer Persönlichkeitsanalyse können alle Informationen von Bedeutung sein, nicht nur das, was der Klient verbal äußert. Der Experte wird entsprechend der beschriebenen Informationsverarbeitungsstrategie erfassen und verarbeiten:

• wie sieht die Person aus,
• wie spricht sie,
• wie schaut sie mich an,
• wie ist sie gekleidet,
• mit welchem Auto ist sie angereist,
• usw., usw.

Man beginnt damit, das System zu analysieren, bevor die ersten Worte gesprochen sind. Wenn mir vor dem persönlichen Erstkontakt schriftliche Berichte vorliegen, werde ich vorher bereits Hypothesen gebildet haben, die ich zu diesem Zeitpunkt zum ersten Mal überprüfen kann.

Der Klient als Auftraggeber

Das Erstgespräch hat den Zweck, den Auftrag des Klienten und das Angebot des Experten zu definieren und zu einer gemeinsamen Zielvereinbarung zu finden. Ich kann eine Persönlichkeitsanalyse nicht an einer Person „vollziehen“. Inhalt und Ziel der Zusammenarbeit müssen beiden Seiten transparent, nachvollziehbar und von beiden Seiten gewollt sein. Vielen Experten, besonders Therapeuten und Beratern fällt es schwer, den Auftrag des Klienten ohne sofortige Abgleichung mit ihrer Angebotspalette wahrzunehmen. Dies führt leicht dazu, daß der Experte das Ziel vorgibt und so keine gemeinsame Zielvereinbarung entwickelt wird. Auf diese Art kann bei der zukünftigen Zusammenarbeit kein gemeinsames Produkt zweier eigenständiger Systeme (Personen – Subjekte) entstehen. Vielmehr wird der Klient zum Objekt einer Fragestellung oder eines Problems des Experten. Es ist deshalb sinnvoll die Frage- bzw. Problemstellung des Klienten möglichst weitgehend uninterpretiert zu registrieren und zu fixieren. Eine Ausnahme bilden i.d.R. Klienten mit Therapieerfahrung. Sie formulieren ihr Anliegen so therapeutengerecht, daß es bereits die Zielvereinbarung enthält. In einem solchen Fall lohnt es sich
nachzufragen, mit welchem Anliegen der Klient zum erstenmal einen Therapeuten aufgesucht hat.

Problemanamnese

Nachdem die Problemstellung des Klienten fixiert wurde, erfolgt eine problem- bzw. systembezogene Anamneseerhebung. Sie dient dem Experten dazu, einen Zusammenhang zwischen der Identitätsentwicklung der Persönlichkeit und der Problemstellung herzustellen. Die häufig als Defekt oder Negation zum Ausdruck gebrachten Probleme werden mit Inhalten des persönlichen Programms des Klienten in Verbindung gebracht. Es werden erste Hypothesen über synthetische und antagonistische Strukturen gebildet. Wenn die Aufgabenstellung des Klienten ein Symptom betrifft, können z.B. folgende Fragen gestellt werden:

• Wann trat das Symptom zum erstenmal auf (genau mit Monat und Jahr)
• Was machte der Klient zu der Zeit beruflich
• wie wohnte er
• zu wem hatte er feste Beziehungen
• trat das Symptom in Phasen auf
• Schilderung der Phasen und der begleitenden Lebensumstände
• Was hat sich im persönlichen Umfeld jeweils ein halbes Jahr vor und nach dem Auftreten des Symptoms verändert
• Welche Entscheidungen standen zu dem Zeitpunkt an
• welche Entwicklungen liefen unproblematisch ab
• wie entwickelte er seine Lebensweise seit Auftreten des Symptoms.

Bei der Auswertung der gewonnenen Informationen filtert man zunächst die angesprochenen Inhalte einer persönlichen und sozialen Identifikation heraus. Danach entwickelt man eine Hypothese, ob die Person mit Hilfe des Symptoms aus der Identifizierung durch die Inhalte aussteigt, ob sie in eine andere Identifizierung umsteigt.
Die Fragen, unter denen der Experte die Informationen auswertet, könnten z.B. folgendermaßen lauten:

• Was wäre der Klient gewesen oder geworden ohne das Auftreten des Symptoms
• Welchen Inhalt einer Identifikation hat das Symptom verhindert
• Welchen Inhalt einer Identifikation hat das Symptom zur Folge gehabt.

Ich möchte das Vorgehen an einem Beispiel erläutern:

Eine junge Frau, die z. Zt. eine Lehre als Bankkauffrau absolviert, leidet an Prüfungsängsten, speziell im Bereich Mathematik. Trotz intensiver Vorbereitung versagt sie bei Arbeiten und erhält regelmäßig die Note 6. In den anderen Schulfächern hat sie keine Schwierigkeiten Sie versucht schon lange die Leistungsschwäche in Mathematik zu bekämpfen, indem sie sich eine Nachhilfelehrerin nahm. Die Nachhilfelehrerin bescheinigte ihr durchaus durchschnittliche mathematische Kenntnisse und Fähigkeiten, ein Erfolg bei den Noten stellte sich trotzdem nicht ein. Die junge Frau hat das Abitur bestanden, trotz der Note 5 in Mathematik. Die Probleme begannen, als sie zum Gymnasium ging, in der Grundschule waren sie nicht aufgetreten. In diesem Beispiel wird deutlich, daß es sich um einen „Ausstieg“ aus einer Identifikation über mathematische Fähigkeiten handelt. Gleichwohl wird das Vorhandensein dieser Identifikation nicht ganz ausgelöscht. Die Frau wählt nicht etwa eine Berufsausbildung in der Mathematik keine Rolle spielt – im Gegenteil. Das Identifikationsthema wird ständig umkreist, ohne daß dafür oder dagegen entschieden wird. Oder anders formuliert: Sie kann gut rechnen und sie kann schlecht rechnen. Die Symptomanamnese hat ergeben, daß sie schon seit dem 10. Lebensjahr gut und schlecht rechnen kann, ohne daß dadurch ihre Schullaufbahn wesentlich beeinflußt wurde. Trotzdem leidet die
Frau unter dem Problem und sie muß viel Energie aufbringen um sich damit zu beschäftigen. Der vom Klienten geäußerte Auftrag und die darin enthaltenen Inhalte bleiben während des gesamten Prozesses der Systemanalyse der Bezugs- und Verankerungspunkt. Jederzeit muß mit Bezug auf den Auftrag vom Experten die Frage beantwortet werden können: „Warum wollen Sie das wissen?“ , bzw. „warum sprechen wir jetzt gerade über dieses Thema?“. Auch wenn vom Klienten die Fragen nicht explizit gestellt werden, sollte der Experte von Zeit zu Zeit den dichten Bezug im Gespräch herstellen.

Angebot des Experten

Im Anschluß an die Problemanamnese macht der Berater ein konkretes Angebot. Im beschriebenen Fall könnte ich das Angebot etwa so formuliert haben: „ Ich kann Ihnen das Problem nicht wegnehmen, und ich glaube auch nicht, dass es einen Experten gibt, der eine Lösung erfinden kann. Ich kann Ihnen aber anbieten, mit Ihnen zusammen zu forschen, ob vielleicht in Ihnen noch Fähigkeiten und Möglichkeiten vorhanden sind, anders mit dem Problem umzugehen. Vielleicht auch, wie Sie damit umgehen können, wenn das Problem nicht lösbar ist. Dazu muß ich Sie erst besser kennenlernen, muß mehr über Sie wissen. Ich muß wissen, was für eine Persönlichkeit Sie sind und welche Stärken Sie haben.“ Das Beratungsangebot ist auf die Ressourcen des Klienten ausgerichtet. Der Berater will im Verhalten und Erleben des Klienten nicht „etwas wegmachen“ oder etwas Fremdes hinzufügen, er will mit ihm zusammen seine Ressourcen erforschen und die neu gewonnenen Kenntnisse und Erkenntnisse auf den Umgang mit der Problematik beziehen. Zu Beginn der Beratung können weder der Berater noch der Klient die Lösung oder auch nur den Lösungsweg kennen, deshalb kann eine Problemlösung nicht angeboten werden, sondern nur die Mitarbeit auf der Suche nach einem Lösungsweg. Bei einer Reihe von Symptomen, z.B. Psychosen und Süchten, beinhaltet die Symptomatik selbst das Ausagieren einer Doppelung im Programm. In diesem Falle sieht der Klient in der Suche nach einer Problemlösung bereits einen Angriff auf seine selbstentwickelten Lösungsansätze. Hier geht es darum, einen Weg zu finden, wie der Klient selbst und seine Umwelt mit der Unauflöslichkeit des Problems (der „Unheilbarkeit“ der „Krankheit“) umgehen kann.

Zielvereinbarungen

Grundlage für die weitere Zusammenarbeit zwischen Klient und Experte ist die gemeinsame Zielvereinbarung. Die Zielvereinbarung kann sich nur im Idealfall auf ein Endziel beziehen. In der Regel wird in ihr ein längerfristiges Etappenziel und evtl. zusätzlich kürzere Zwischenetappen formuliert. In jedem Fall muß die Zielvereinbarung die Fragestellung des Klienten und das Angebot des Experten zusammenführen und von beiden akzeptiert werden.

Biografische Anamnese

Eine große Anzahl Verhaltensweisen wurden bereits im Erstgespräch und aufgrund der Symptomanamnese beschrieben. Es ist jedoch für den späteren Verlauf der Analyse hilfreich eine breitere Basis für die Verankerung der Programminformationen im Verhalten des Klienten zu haben. Dies kann mit Hilfe einer ausführlichen biografischen Anamnese erreicht werden. Für die biografische Anamnese innerhalb einer SPA sind besonders die Verhaltensweisen interessant, die im Zusammenhang mit dem Erreichen einer neuen Stufe selbständiger Identität im sozialen Raum gezeigt werden. Dies könnten in der Biografie einer Person sein (ohne Anspruch auf Vollständigkeit)

• Sprechen – und Laufenlernen
• Kindergarteneintritt
• Grundschuleintritt
• Umschulung
• 1. Freundschaft mit dem anderen Geschlecht
• 1. feste Beziehung
• Schulabschluß
• Wahl der und Eintritt in die Ausbildung
• Führerscheinprüfung
• Berufsabschluß
• 1. Auto
• 1. eigene Wohnung
• 1. gemeinsame Wohnung mit Partner
• Berufsaufstieg
• Heirat
• 1.,2. Kind
• Hausbau, Einzug in eigenes Haus
• Tod eines Elternteil
• Partnerverlust, Trennung
• Auszug und Verselbständigung der Kinder

Aus den so gewonnenen Daten ergeben sich eine Fülle von Hypothesen, die Anlaß für eine Erforschung der in ihnen enthaltenen Programmatik sein können.

Aufzeichnen des Genogramms

Die Genogrammgrafik ist für den Experten und den Klienten ein Hilfsmittel, um gemeinsam das „Programm“ des Klienten zu visualisieren und zu diskutieren. Da das Programm nur im Verhalten (Handeln, Fühlen, Denken) manifest wird, ist dieses Verhalten immer der Bezugspunkt. Schon während der biografischen Anamnese kann mit der Aufzeichnung des Genogramms begonnen werden. Die Art der Aufzeichnung soll für beide Seiten – Klient und Experte – anschaulich und übersichtlich sein. Traditionell stellen wir männliche Personen durch Quadrate und weibliche Personen durch Kreise dar. Ehepaare werden durch geschlossene, Paare durch eine gestrichelte Linie verbunden.

Kinder werden durch eine Linie an die Verbindungslinie der Eltern angebunden

Abbildung 5

Jedes Symbol wird durch die Vornamen, Geburts- und Todesjahr beschriftet, die Verbindungslinie eines Ehepaares mit dem Heirats- und evtl. Scheidungsdatum

Abbildung 6

Die Familiennamen werden bei der ältesten aufgezeichneten Generation eingetragen. Die Symbole können mit zusätzlichen Informationen beschriftet werden. Wir zeichnen in der Regel die Berufe, bzw. berufliche Tätigkeit, Geburtsort oder Region, Todesart (besonders bei Tod im jüngeren Lebensalter), allgemeine Stichworte zur Besonderheit der Person und Stichworte auf, die sich auf die Problemstellung beziehen. Um die Übersichtlichkeit zu erhalten, sollten nicht mehr als 5 Stichworte zu jedem Symbol hinzugefügt werden. Darüber hinausgehende Informationen müssen gesondert aufgezeichnet werden.

Abbildung 7

Doppelungen werden nach demselben Schema dargestellt

Abbildung 8

In diesem Fall ist Edith das Kind der Elfriede mit einem (noch) unbekannten (leiblichen) Vater, aufgewachsen bei (Stief-) Vater Herrmann.

Strategische Informationssuche

Auf den ersten Blick ähnelt die Erstellung eines Genogramms der traditionellen Familien- und Ahnenforschung. Jedoch endet die Ahnenforschung dort, wo die systemische Analyse beginnt. In der Ahnenforschung ist die Gewinnung belegbarer Daten der eigentliche Zweck; sie werden unverbunden aneinandergereiht. In der systemischen Analyse haben Daten und Informationen nur dann einen Wert, wenn sie in Systemhypothesen und endlich in eine Theorie des Systems einzuordnen sind. Uns interessieren daher alle Informationen, die die Lebensweise der einzelnen im Familiensystem beteiligten Personen beschreiben. Um eine Persönlichkeit systemisch zu analysieren, erforschen wir ihre Ursprungsfamilie oder besser – ihre Ursprungsfamilien, d.h. Vaterfamilie und Mutterfamilie. Die aktuelle Beziehungsfamilie ist von nachgeordneter Bedeutung; den Partner betrachten wir als eigenständiges System, die Kinder mit der Frage, was die Person an sie weitergegeben hat. (Auf die Partnerwahl als Hinweis auf spezifische Strukturen im Ursprungssystem kommen wir später zu sprechen). Bevor man mit der Befragung und der Analyse beginnt, ist es notwendig, dem Klienten den Sinn des Genogramms zu erläutern. Der Wortlaut könnte so sein: „Ich muß ich von Ihnen wissen, welche Möglichkeiten in Ihnen sind, sich mit Ihrer Umwelt auseinanderzusetzen. Ich kann mir am besten ein Bild davon machen, wenn ich weiß, woher, aus welcher Familie Sie kommen. Ich bin der Meinung, daß man vieles von dem, was man zur Organisation seines eigenen Lebens oder zum Umgang mit anderen Leuten benutzt, zuerst von den Eltern mitbekommen hat (manchmal sage ich auch: von Vater und Mutter geerbt hat). Deshalb möchte ich wissen, wie Ihre Familie, Ihre Eltern und Großeltern leben und gelebt haben.“ Meistens ergibt sich aus diesem Statement eine kurze Diskussion. Es ist allerdings an dieser Stelle noch nicht sinnvoll, die Theorie zu erläutern. Ich möchte das Vorgehen anhand eines Beispiels aus meiner Beratungspraxis erläutern. Bei mir wird eine junge Frau von ihrer Mutter angemeldet, weil sie zum wiederholten Mal bei schulischen Leistungstests in Mathematik versagt hat. Die Mutter bittet mich, der Tochter dahingehend zu helfen, daß sie die Prüfungen bestehe und damit nicht ihre berufliche Zukunft gefährde. Die Tochter erhält von mir einen Gesprächstermin, bei dem Sie mir ihr Problem ausführlich schildert. Sie ist 21 Jahre alt, hat das Abitur gemacht und absolviert z.Zt. eine Lehre als Bankkauffrau. Während ihrer gesamten Schullaufbahn hatte sie in Mathematik die Note 5. Während der Nachhilfestunden, die sie erhielt, konnte sie alle Aufgaben richtig lösen, um dann aber bei Klassenarbeiten regelmäßig zu versagen. Sie kann sich das Versagen nicht erklären, weil sie auch von sich selbst vor den Tests die Eindruck habe, den Stoff zu beherrschen. Nunmehr sei der Abschluß der Ausbildung gefährdet, weil sie in dem entscheidenden Fach eine 6 habe. Wir besprechen die momentane Lage und ihre Genese ausführlich. Ich mache ihr daraufhin das Angebot, mit ihr gemeinsam nachzuforschen, welche Potentiale in Bezug auf Mathematik in Ihr stecken, und ob man diese gegebenenfalls besser nutzen könne. Ich erläutere meine Auffassung darüber, wie sich in einer Person Fähigkeiten und persönliche Merkmale entwickeln und schlage vor, ihre Ursprungsfamilie zu erforschen und die Ergebnisse auf der bereitgestellten Flipchart aufzuzeichnen. Die Aufzeichnung des Genogramms beginnt mit der Person selbst und mit ihren Geschwistern. In dem aufgeführten Beispiel würden wir nach der Schullaufbahn und natürlich nach den Mathematikleistungen der Geschwister fragen. Es würde uns weiter interessieren, welche Berufe die Geschwister gelernt haben und ausüben. Darüber, daß eine Schwester Kauffrau gelernt habe und jetzt Hausfrau und Mutter sei, kämen wir darauf, ob die Geschwister verheiratet seien, bzw. Partner und Kinder hätten. Anhand der Analyse der Schulleistungen der Geschwister könnten wir unsere Hypothese zum Rechenprogramm der Klientin überprüfen. Leider sind uns im vorliegenden Fall diese interessanten Zugänge zum System versagt, da die Klientin keine Geschwister hat. Wir gehen zur nächsten, zur Elterngeneration. Zunächst werden – wie auch bei allen weiteren Personen – Vornamen, Geburtsjahr und evtl. Sterbejahr mit Todesursache erfaßt. Außerdem wird der aktuelle Wohnort festgehalten. Es wird ein ausführliches und differenziertes Bild der Lebensweise der Eltern entworfen. Dabei muß man darauf achten, daß Vater und Mutter unterschiedliche Personen sind. Es wird beschrieben, wie die Besonderheit und die Normalität der Personen in ihrer Lebensgestaltung sichtbar wird. Zeigen wir diese Vorgehensweise an einem kleinen Detail aus unserem Beispielfall:

Abbildung 9


Wie wir sehen, ist der Vater Geschäftsführer in einem Bekleidungshaus. Ich gehe davon aus, daß der aus dem Beruf des Vaters resultierende soziale Status sich in seiner Lebensführung zeigt. Welche Automarke wird er fahren? Er wird keinen Golf, Audi, Opel oder Ford fahren – diese Marken fahren seine Angestellten. Er wird kein ausländisches Auto fahren – in seinem Geschäft werden bekannte Markenartikel verkauft. Er wird also ein deutsches Statusauto fahren – stimmt, er fährt Mercedes (in einer dunklen Farbe, passend zu den Anzügen, die er verkauft). Die Antwort war nicht schwer vorauszusehen, der darin liegende Informationsge-halt für die Beschreibung der Individualität des Vaters ist gering, da er sich bei der Wahl seines Autos einem gängigen Klischee entsprechend verhält. Wir können für unsere weitere Analyse festhalten, daß der Vater Wert darauf legt, diesem Statusklischee zu entsprechen. Ich diskutiere diese Sichtweise mit der Klientin, und sie bestätigt, daß ihr Vater in vielen Lebensbereichen Wert auf statusgemäßes Verhalten legt, man erkennt es an seiner Kleidung, beim Hausbau, er spielt Tennis, usw. Ich frage nach, ob es auch Lebensbereiche gibt, in denen er anders ist; der Tochter fällt jedoch im Mo-ment nichts ein. Ich beschließe, später die Hypothese zu untersuchen, ob im Ursprungssystem des Vaters eine Auslöschung vorliegt, die es ihm nicht gestattet, Individualität zu haben oder zu zeigen. Wir wenden uns der Mutter zu: sie fährt einen weißen Golf, sagt, es sei ihr egal, welches Auto sie fahre, will auf keinen Fall mit dem Mercedes fahren und könnte sich vorstellen, ein Cabrio zu besitzen. Es sieht so aus, als lege sie im Gegensatz zu ihrem Ehemann keinen Wert auf die Demonstration ihres sozialen Status. Allerdings scheint sie hin- und herzuschwanken, ob sie „angepaßt“ (Golf – Fahrerin) oder „extravagant“ (Cabrio – Fahrerin) sein soll. Die Tochter bestätigt diese Interpretation anhand anderer Beispiele aus dem Alltagsleben. Die Informationen über die Mutter legen die Hypothese nahe, daß das Verhalten eine Umstiegsstruktur darstellt. Im Gegensatz zum Vater werden allerdings bereits Inhalte eines möglichen Antagonismus sichtbar. In meiner Arbeitshypothese spekuliere ich über eine Doppelung zwischen Systemen, von denen eins als unauffällig und durchschnittlich und das andere als „außergewöhnlich“ und evtl. von höherem Sozialstatus gilt. Die Informationen über beide Eltern müssen nun auf die Tochter bezogen werden. Auch hier vergleichen wir das Verhalten der Tochter mit den Eltern, wir suchen in der Tochter das jeweilige elterliche Verhalten; und wir hinterfragen die für die Eltern entwickelten Programmhypothesen im Programm der Tochter. Die Tochter fährt einen Austin – Mini, ein wirklich exotisches Auto. Ihr Vater hat das Auto ausgesucht und gekauft, ihrer Mutter gefällt es sehr gut. Ihr selbst gefällt es gut, sie möchte aber demnächst einen Polo kaufen. Diese Informationen erfordern analytische Arbeit vom Berater. Das Auto ist ein „Kult – Auto“, von dem junge Menschen der 60er und Anfang der 70er Jahre träumten, ohne es sich in der Regel leisten zu können. Unwahrscheinlich, daß die Tochter auf die Idee kam, dieses Auto zu kaufen. Sie bestätigt, daß sie es als Geschenk zum Abitur erhalten hat, ohne es selbst auszusuchen.
Was an dem Auto gefällt ihr?
Ihr gefällt

• Dass es ihren Eltern gefällt
• Dass es gut fährt
• Dass es gut aussieht.

Die von mir geäußerte Überlegung, daß sich in ihrer Einstellung zum Auto, die Art der Anpassung des Vaters und der widersprüchliche Umgang der Mutter mit der „Extravaganz“ widerspiegeln könnte, erscheint ihr plausibel, aber sehr ungewohnt. Einem späteren Zeitpunkt überlasse ich die Klärung der Frage, ob die Aktivität des Vaters beim Autokauf und bei der Auswahl lediglich Anpassung (an ein allgemeines Klischee und an die Wünsche der Mutter) enthält oder ob darin auch Spuren persönlich identifizierender Inhalte zu finden sind. Nachdem wir die Lebensweise der Eltern auch in anderen Teilbereichen entsprechend analysiert und in Hypothesen verarbeitet haben, ist es notwendig zum erstenmal die Hypothese zum Problem näher historisch zu untersuchen. In unserem Beispiel stelle ich die Frage: „Wie waren die Leistungen Ihrer Eltern in Mathematik? Was haben Sie in dieser Beziehung von Ihren Eltern geerbt?“ Für den Vater war Mathematik nie ein Problem, bei der Mutter ist die Klientin unsicher und meint, sie habe wohl auch Probleme gehabt. An dieser Stelle muß die Entscheidung getroffen werden, ob zunächst das Vater – oder das Muttersystem weiter erforscht werden soll. Es empfiehlt sich, die Seite auszuwählen, in der man eine auf die Problematik bezogene Doppelung vermutet. In jedem Fall sollten die beiden Systeme getrennt und nacheinander erforscht werden. Im vorliegenden Fall fiel die Wahl auf das Muttersystem. Wir fragen zunächst nach den Geschwistern der Mutter. Mit demselben Verfahren, mit dem die Geschwister des Klienten (sofern vorhanden) untersucht wurden, werden die Geschwister der Eltern erforscht und die Informationen in die Hypothesen und Theorien zur jeweiligen Familie eingearbeitet. In diesem Zusammenhang können auch die Kinder der elterlichen Geschwister, also die Cousins und Cousinen des Klienten einbezogen werden. Wenn schon aufgrund der Fragestellung oder der Symptomatik des Klienten ein Doppelsystem als Ursprung wahrscheinlich ist – wie z.B. bei einer Psychose -, jedoch keine Hypothese über die Herkunft der relevanten Doppelung entwickelt werden kann, sollte man sich einen kurzen Überblick über Cousins und Cousinen beider Seiten verschaffen. In der Regel kann man auf einer Seite deutliche Folgesymptome einer Doppelung feststellen, so daß diese Seite dann zuerst erforscht wird. In unserem Beispielfall konnten wir uns bereits im Vorfeld entscheiden.

Abbildung 10

Wir untersuchen die beiden Hypothesen, nach denen „Rechnen – Nichtrechnen“ und „unauffällig – exotisch“ in
einem antagonistischen Verhältnis stehen könnten. Die Klientin soll dazu ihre Mutter befragen, von der sie dann auch bereitwillig Auskunft erhält. Die Tante Doris konnte in der Schule besonders gut rechnen, sie lebt heute „unauffällig“ als Hausfrau und kümmert sich um Ehemann und Kinder. Ihr Sohn Bernd hatte wie seine Cousine ständig schlechte Mathematiknoten. Er hat die Realschule abgeschlossen und macht eine Lehre in einem Metallberuf. Sohn Klaus gilt als der beste Mathematiker seiner Klasse. Tante Annette gibt sich als „höhere Dame“: Ihre Rechenleistungen in der Schule waren weder besonders gut noch schlecht. Unsere Antagonismushypothese verdichtet sich. Wir finden eine typische Aufteilung von Merkmalen vor, wie sie in den Folgegenerationen nach einer Doppelung auftritt. Eine Schwester rechnet gut (der eine Pol), eine Schwester rechnet schlecht (der andere Pol), die dritte Schwester hat von beidem etwas. Ebenso finden wir unsere Hypothese bzgl. des Merkmals „auffällig exotisch – unauffällig“ bestätigt. Die Klientin schildert weiterhin, daß ihre Mutter und ihre Tante Doris eine zwiespältige aber enge Beziehung untereinander hätten. Auch dies nehme ich als Indiz dafür, daß wir uns bei unseren Forschungen auf dem richtigen Weg befinden. Im weiteren Verlauf des Gesprächs erkläre ich der Klientin zunächst allgemein meine Theorie zu Doppelungen und meine konkrete Hypothese. Ich bitte sie, Ihre Großeltern nach evtl. Stiefeltern zu befragen, da sie selbst nur wenig über die Ursprungsfamilien der Großeltern weiß. Wie schon beim Übergang von der Klientengeneration zur die Elterngeneration, so gehen wir auch beim Übergang von der Elterngeneration zur Großelterngeneration vor (und von der Großeltern- zur Urgroßelterngeneration). Allerdings ist es notwendig, daß jede neu gewonnene Information in ihrer Wirkung bis hin zur Problemstellung des Klienten verfolgt wird. Die ursprünglich entwickelten Hypothesen werden ständig überprüft und ggf. angepaßt oder sogar ganz neu formuliert. An das Team Experte/Klient werden mit dem Übergang zur 2. Vorgeneration neue Anforderungen in Bezug auf die Informationsverarbeitung gestellt. Sie müssen die Identität der Personen im sozialen Wertekontext ihrer damaligen Lebenswelt beschreiben, d.h. sie benötigen als Bezugsrahmen Kenntnisse über die „Normalität“ der damaligen Zeit. Man kann sich dieses an einigen Beispielen verdeutlichen: Wenn jemand 1930 in Deutschland ein Autofahrer war, galt er als „Exot“. Im Jahre 1996 gilt als „Exot“, wer keinen Führerschein hat und nicht Auto fährt. 1930 war es für eine Frau höchst ungewöhnlich und fast „unmoralisch“, das Abitur zu machen; 1996 gilt bei Mädchen der Schulabschluß mit Abitur als „normal“, einen Unterschied zwischen Jungen und Mädchen erwartet
man in dieser Hinsicht nicht. Als ein Problem bei der Erforschung der Großelterngeneration tritt häufig auf, daß dem Klienten nur noch wenige oder gar keine Informationen aus unmittelbar eigener Anschauung zur Verfügung stehen: zum Teil gibt es widersprüchliche oder geschönte Überlieferungen, fast immer sind die Informationen für die Analyse zu bruchstückhaft. Für die notwendigen Nachforschungen durch den Klienten gibt es grundsätzlich zwei Wege, die Befragung von Familienangehörigen oder anderen Personen, die die entsprechenden Vorfahren kannten, und die Suche nach Dokumenten. Oft ist eine Kombination beider Wege sinnvoll. Bei gestörten oder gespannten Beziehungen innerhalb der Familie sollte man zunächst versuchen, Dokumente zu bekommen und auszuwerten. In manchen Beratungs- und Therapiefällen kann es sinnvoll sein, daß der Berater/Therapeut den Klienten aktiv bei den Nachforschungen unterstützt. Das gilt vor allem bei psychiatrischen Langzeitpatienten und auch bei Langzeitklienten im Suchtbereich. Wenn Doppelungen vermutet werden, in der Familie aber nicht überliefert sind, geben Heirats- und Geburtsurkunden oft den ersten Hinweis auf voreheliche Väter, frühere Ehen o.ä. Beim Vergleich von mündlich überlieferten Daten mit Dokumenten kann man bisweilen den entscheidenden Hinweis auf eine nicht überlieferte Doppelung bekommen. Eine fast unerschöpfliche Informationsquelle für die Beschreibung und Identifizierung der einzelnen Familienmitglieder sind die Fotosammlungen der Familie. Meistens werden die Fotoalben bereitwillig zur Verfügung gestellt. Der geübte Experte findet bei der gemeinsamen Betrachtung mit dem Klienten viele Ansätze zur Hypothesenbildung und zum Einfügen in seine Theorie über das Programm des Klienten. Was ergibt sich nun in unserem Beispielfall aus der Erforschung der Großeltern mütterlicherseits?

Abbildung 11

In der nächsten Sitzung berichtet die Klientin von einem Gespräch mit den Großeltern Rudolf und Else. Rudolf war der Gründer und ist der Besitzer des Textilgeschäftes, in dem ihr Vater Geschäftsführer ist. Beide führen die Geschäfte gemeinsam. Er arbeitet auch heute, im Alter von fast 80 Jahren, regelmäßig im Geschäft mit. Aus Zeitmangel habe sie die Familie nicht weiter erforsche können. Der Großvater habe gesagt, er könne auch schlecht rechnen, es sei typisch für die Familie A. ́s (Familienname des Großvaters), daß sie in der Schule schlecht rechnen könne. Ich erlaube mir daraufhin die Bemerkung, daß sie ja dann offensichtlich zur Familie A. gehöre, was sie als selbstverständlich bejaht. Schlecht rechnen können ist also Bestandteil familiärer Identität der Mutterfamilie. Wie kann es dazu kommen, daß sich eine Familie mit einer unerwünschten Eigenschaft dauerhaft identifizieren kann? Das ist die wichtige Frage, die wir als nächste im Ursprungssystem des Großvaters klären müssen. Nebenbei hat noch unsere Anpassungshypothese für den Vater Unterstützung bekommen; er hat in das Geschäft der Familie seiner Ehefrau eingeheiratet. Der Großvater ist nach wie vor (mit fast 80 Jahren) der mitarbeitende Unternehmer. Das Geschäft trägt seinen Namen. Die Großmutter wird als lieb, mütterlich und Organisationstalent geschildert. Sie konnte in der Schule immer gut rechnen. Die Klientin meint, von der Wesensart der Großmutter habe sie viel abbekommen. Im weiteren Verlauf komplettieren wir die 2. Vorgeneration entsprechend unserem Vorgehen in der Elterngeneration. Von der dritten Vorgeneration, der Urgroßeltern – Generation benötigen wir zumindest Grundinformationen (Namen, Geburts-, Todes-, Heiratsdaten, Wohnorte, Berufe), um die zweite Vorgeneration nicht nur deskriptiv darzustellen, sondern um die Möglichkeit der Überprüfung von Programmhypothesen zu haben. In unserem Beispielfall hoffen wir, in dieser Generation die Aufklärung für die ungewöhnliche Nicht – Rechnen – Können – Eigenschaft der Familie zu finden.
Ich habe wegen der Äußerung des Großvaters zum Thema zunächst seine Ursprungsfamilie zur weiteren Erforschung ausgewählt.

Abbildung 12

In dieser Generation stoßen wir auf die vermutete Doppelung. Der Vater des Großvaters war Drogist mit
einem eigenen Geschäft. Von der leiblichen Mutter Berta, geb. B. ist überliefert, daß sie eine einfache Frau
war, die nur vier Jahre zur Schule gegangen war. Sie starb früh an Brustkrebs. Die Stiefmutter war die Tochter eines Tuchfabrikanten aus einer 200 km entfernten Stadt. Sie galt als fein und gebildet und konnte gut rechnen. Sie hatte ein Lyzeum besucht. Mit diesen Informationen sind wir fast am Ziel der Entwicklung einer Theorie über das Problem bzw. Symptom. Die aus der Konstellation der 3. Vorgeneration entstehende Doppelung im Programm läßt sich durch alle nachfolgenden Generationen verfolgen. Die Kaufmannsart des Urgroßvaters wird ungebrochen fortge-führt (hier erklärt die Klientin, daß sie unbedingt später das Geschäft übernehmen will). Der Konflikt entsteht in den persönlichen Programmen zwischen M1 – leiblicher Mutter (einfach, ungebildet) und M2 – Stiefmutter (fein, gebildet). Die nachfolgenden Generationen führen ein „Doppelleben“, in dem sie beide Arten nicht in einer Synthese verbinden, sondern zwischen ihnen hin – und herwechseln. Im Gespräch über das Alltagsleben der Familie fallen uns sehr viele solcher „Umstiege“ auf. Ihr selbst fällt auf, daß ihr Automarkenwechsel von Austin – Mini auf VW – Polo auch ein solcher Umstieg ist. Wir können diese früher so unverständlichen Begebenheiten als in sich selbst schlüssig und konsequent beschreiben. Beide Urgroßmütter haben auf diese Weise in der familiären Identität überlebt. Die Plausibilität der auf das Problem bezogenen Theorie darf uns nicht dazu verleiten, die Systemanalyse an dieser Stelle abzubrechen. Die Entwicklung einer neuen Qualität im Selbstbewußtsein und in der Entfaltung einer Person bedarf eines Gleichgewichts zwischen den verschiedenen Teilen des Ursprungssystems. Wir gehen zunächst rückwärts. Im Beispiel ergänzen wir die Geschwister und danach die Eltern der Großmutter.

Abbildung 13

Die Verbindung zwischen Großvater und Großmutter erscheint statusgemäß. Ihr Vater war ebenfalls selbständiger Kaufmann. Die Klientin sieht Wesensähnlichkeiten zwischen sich und dem Cousin ihrer Mutter, der allerdings keine Probleme mit dem Rechnen hat. Er hat allerdings Schwierigkeiten mit seinen Beziehungen zu Frauen. Wenn wir die späte Heirat seines Vaters betrachten und sehen, daß seine Eltern nur ein Kind haben (wie ja auch Christines Mutter), ist es nicht abwegig, auch in der großmütterlichen Familie einen alten Antagonismus zu vermuten, der das Thema „Mutter mit Kind – Frau ohne Kind“ hat. Wir entscheiden uns jedoch, dies nicht weiter zu untersuchen, da sich der Klientin diese Frage im Moment nicht stellt. Unser Theorie zum Symptom finden wir durch zwei Feststellungen unterstützt. Das Rechenproblem ist in der Familie der Großmutter und deren Nachfahren kein Thema. Eine Doppelungsstruktur ist aber in ihrer Familie wahrscheinlich, worin wir die Erfahrung bestätigt finden, daß die Verbindung von zwei Partnern, von denen einer über eine „einfache“, der andere über eine „doppelte“ Ursprungsstruktur verfügt, sehr selten ist. Häufig dagegen finden wir eine Verbindung, bei der das Auftreten der Doppelung um eine Generation verschoben ist, z.B. bei dem einen Partner in der zweiten und bei dem anderen in der dritten Vorgeneration. Inzwischen hat die Klientin festgestellt, daß sie fast nichts über die Familie ihres Vaters weiß. Auf Befragung reagiert der Vater kritisch und abweisend.

Abbildung 14

Durch den Informationsstand und durch das Verhalten des Vaters wird unsere Auslöschungshypothese weiter verstärkt. In diesem Fall ist eine Forschung nach Dokumenten sinnvoll. Hier endet die Fallbeschreibung, da die Klientin noch forscht. Allerdings hatte sie ein Erfolgserlebnis, indem sie eine 3 in einer Mathematikarbeit geschrieben hatte. Im Anschluß an unsere gemeinsame Diskussion hielt sie es für sich für notwendig – und auch für möglich – , ein „verrücktes Doppelleben“ zu führen. Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Beratungsprozeß drei Monate mit vier gemeinsamen Sitzungen gedauert. Es ist gelungen, in einem scheinbaren Symptom einen unverzichtbaren Teil einer persönlichen Identität zu finden. Durch die neue und erweiterte Kenntnis der Personen, die durch das Symptom in der Persönlichkeit der Klientin repräsentiert werden, hat sie größere persönliche Spielräume gewonnen: Die Personen können auch ohne die Rechenschwäche in ihr weiterleben.
Trotzdem besteht für den Berater kein Anlaß, sich befriedigt zurückzulehnen. Die Klientin wird jetzt weniger unter Druck und weniger intensiv weiterforschen. Vielleicht wird es ein paar Jahre dauern, bis sie an den Punkt kommt, an dem es notwendig wird, bei der Analyse ihres Systems mit der Vaterseite fortzufahren.