Anleitungen zur Hilfe- und Betreuungsplanung bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit
„leichtem frühkindlichen Hirnschaden“

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Leichter frühkindlicher Hirnschaden

Merkmale

1. Fehlende Konstanz in den Personen und Objektbindungen
Das Bindungssystem ist physiologisch gestört. Aus diesem Grunde entstehen in der frühen Kindheit nicht die für eine spätere Beziehungskonstanz notwendigen Bindungen. Als Folge davon sind im weiteren Verlauf der Entwicklung und im Erwachsenenalter Bezugspersonen austauschbar (nach dem Motto: „aus den Augen – aus dem Sinn“). Dasselbe gilt für die Beziehungen zu Dingen – vom Kuscheltier bis zum Handy. Sie sind nur im Augenblick attraktiv, wenn sie unmittelbar ein Bedürfnis herrufen. Ist das Bedürfnis befriedigt, sind sie uninteressant.Wegen der fehlenden Bindungsfähigkeit haben Betreuungspersonen (Eltern, Erzieher, Betreuer) das Gefühl, mehr in die Beziehung zu investieren als sie zurückbekommen. Daraus resultiert bei der Betreuungsperson auf Dauer ein Gefühl von Ausgebranntsein.

2. Distanzlosigkeit
Fremde Personen werden ohne Hemmungen angesprochen. Die Art und der Inhalt der Ansprache ist in der Regel der Situation nicht angemessen, z.B. wird eine fremde Person, die man normalerweise mit „Sie“ ansprechen würde, mit „Du“ angesprochen, oder es werden intime Themen kommuniziert, usw. Viele der so angesprochenen Personen reagieren zunächst positiv überrascht, gehen dann aber nach kurzer Zeit auf Distanz. Sie interpretieren das Verhalten als unerzogen oder flegelhaft.

3. Fehlende Bedürfniskontrolle
Bedürfnisbefriedigung kann nicht hinausgeschoben werden, Bedürfnis muss sofort befriedigt werden. Zu empfehlen ist der „Schokoladentest“ (sofern der Klient Schokolade mag): Man legt dem Klienten eine Tafel Schokolade vor mit der Bitte, ein Stück davon eine Stunde lang zu verwahren, weil man dieses Stück dann selbst zu verzehren gedenke. Ist nach einer Stunde noch ein Stück der Schokolade übrig, hat der Klient wahrscheinlich keinen frühkindlichen Hirnschaden.

4. Denken und Verhalten ist gegenwartsorientiert, zukünftige Konsequenzen des Verhaltens werden nicht bedacht
Die schnelle, aktuelle Bedürfnisbefriedigung ist entscheidend. Ob man morgen etwas zu essen oder anzuziehen hat, ob man die Miete bezahlen kann, ob man das eigene Kind versorgen kann, ob andere Personen unter dem Verhalten leiden, usw., wird nicht bedacht. Einzelwahrnehmungen können nicht in einen komplexen inhaltlichen, zeitlichen und räumlichen Zusammenhang gesetzt werden.

5. Werte, Regel und Moralsystem ist unterentwickelt
Grundregeln des sozialen Zusammenlebens werden nur bruchstückhaft verinnerlicht. Sie können vom Klienten meist zwar benannt werden, können aber in einer Situation, in der es erforderlich wäre, nicht angewandt werden. Nicht selten stiehlt der Klient Dinge, die ihm im Moment gut gefallen. Das Verständnis für das Eigentum anderer ist zwar zeitweise vorhanden, geht aber durch die Attraktion des Reizes gänzlich verloren. Es entsteht später kein Schuldbewusstsein.

6. Exploratives Verhalten führt nicht zu nachhaltigen Lernergebnissen
Für das Kind oder den Jugendlichen ist es interessant, einen Apparat z.B.ein Fahrrad auseinander zu bauen. Es entsteht bei ihm allerdings kein Plan davon, wie er es wieder zusammenbauen könnte, das Gerät bleibt unbrauchbar. Er leitet daraus trotzdem nicht die Konsequenz ab, in Zukunft auf ähnliche Maßnahmen zu verzichten. Ähnlich verhält es sich in sozialen Situationen: Im sozialen Kontakt werden Empfindlichkeiten anderer Personen durchaus erkannt und solange ausgereizt, bis diese den Kontakt abbrechen oder den Klienten aus der Gruppe ausschließen. Der Ausschluss ist zwar im Moment für ihn unangenehm, führt aber nicht zu einem Erkenntnisprozess und einer daraus resultierenden Änderung des Verhaltens. Im Ergebnis wird er zum Außenseiter.

7. Unterdurchschnittliche Intelligenz
Bei guter Förderung wird maximal mittleres Lernbehindertenniveau erreicht. Schreib und Rechen regeln werden nicht dauerhaft verinnerlicht. Normales schulisches Lernen überfordert den Klienten und führt zu unruhigem und unkonzentrierten Verhalten.

8. „Geschichten erfinden“
Der Klient kann aus dem Stegreif „Geschichten“ erfinden, die dem unvoreingenommenen Zuhörer durchaus glaubhaft erscheinen.

9. Der/die Betroffene kann nicht mit Geld umgehen
Geld wird unmittelbar ausgegeben oft für unsinnige Dinge , ohne dass dies zu einer wirklichen Bedürfnisbefriedigung führt. Das Geldausgeben hat einen selbstverstärkenden Charakter, der Klient braucht mehr Geld, um es wieder sinnlos auszugeben. Jemand, der eigenständig Geld über mehrere Tage sparen kann, hat keinen leichten frühkindlichen Hirnschaden.

10. Überforderung Aggressionen
Mit der Organisation des eigenen Lebens ist der Klient grundsätzlich überfordert. Er kann die Anforderungen, die die Umwelt an ihn stellt, nicht verstehen und deshalb nicht adäquat reagieren. Auf den in Folge dessen auf ihn ausgeübten Druck reagiert er mit Stress, Rückzug oder Aggression.

Der leichte frühkindliche Hirnschaden führt zu einer Behinderung, die oft unterschätzt wird.

Ursachen

Der leichte frühkindliche Hirnschaden wird durch Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff vor, während oder nach der Geburt verursacht. Die Unterversorgung führt zu einem Ausfall von Nervenzellen in allen Teilen des Gehirns. Dieser Schaden kann nicht ausgeglichen oder therapiert werden. Gehirnschäden, die nach den ersten Lebensmonaten etwa durch Infektionen oder Impfschäden haben anderen Folgen, da das Bindungssystem bis zu diesem Zeitpunkt bereits weiterentwickelt wurde.

Entwicklungsverlauf in der Lebensgeschichte

Sehr häufig kann bei der angegebenen Symptomatik von Geburtskomplikationen bzw. einem Sauerstoffmangel bei der Geburt berichtet werden.
Die frühkindliche Entwicklung bis zu einem Alter von ca. 3 Jahren verläuft relativ unauffällig. Die Sprachentwicklung ist häufig etwas verzögert.
Mit dem Eintritt in den Kindergarten kommt es zu erheblichen Verhaltensauffälligkeiten. Das Kind verinnerlicht nicht wie andere Gleichaltrige Regeln und Werte. Es zeigt sich mit den sozialen und intellektuellen Anforderungen des Kindergartens überfordert. Es ist unruhig, unkonzentriert und wird in der Gruppe zum Außenseiter. Da vielen Erzieherinnen die Problematik des frühkindlichen Hirnschadens nicht bekannt ist, führt man das Verhalten auf familiäre Erziehungsfehler zurück. Eltern und damit auch das Kind sehen sich durch eine solche Fehleinschätzung zusätzlichem Druck ausgesetzt. Im Schulalter steigern sich die Verhaltensauffälligkeiten weiter so dass schon der Besuch einer Regelgrundschule scheitert. Eine Sonderschule für Lernbehinderte kann nur mit intensiver Förderung bei genauer Kenntnis der Symptomatik abgeschlossen werden. Mit den wachsenden Anforderungen an die Selbständigkeit im Jugendlichen und Erwachsenenalter steigern sich die Probleme und Auffälligkeiten (siehe oben). Je höher die Erwartungen der Umwelt an selbständiges und selbstverantwortliches Verhalten der Person sind, um so gestörter wird ihr Verhalten.

Betreuungsformen

Grundsätzlich gilt: Die fehlende Innensteuerung der Person muss durch Außensteuerung (Fremdsteuerung) ausgeglichen werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Außensteuerung nicht vorübergehend sein kann sondern kontinuierlich erfolgen muss. Ein grundsätzlicher Lern oder Entwicklungsprozess ist ausgeschlossen. Wenn die Außensteuerung adäquat und kontinuierlich erfolgt, kann die Person ein durchaus zufriedenes und sozial angepasstes und unauffälliges Leben führen.

Die Betreuung muss handlungsorientiert erfolgen. Diskussionen über Anforderungen oder Appelle an die Einsicht des Klienten sind sinnlos und führen zu nichts.

Je einfacher die Lebensumstände gestaltet werden um so besser. Viele Anregungen, komplizierte soziale oder emotionale Umstände führen bei dem Klienten zu Chaos im Kopf, in den Gefühlen und im Verhalten. Ein Kind sollte z.B. nur ein Kuscheltier haben, nur wenig Spielzeug, ein sehr einfach eingerichtetes Zimmer, usw.

Die Annahme der Betreuungsperson, dass der Klient seine Aufgaben mit Rücksicht auf die gute und vertrauensvolle Beziehung zu ihm erfüllt („dass man sich auf ihn verlassen kann“), wird zwangsläufig zu Misserfolg und zum Scheitern der Beziehung führen. Deshalb: Kontrolle (und ein gewisses Misstrauen) ist notwendig. Ein solches Betreuungsverhalten ist für den Betreuer vor allem emotional extrem aufwendig und führt langfristig nicht selten zu einem Gefühl der Überforderung bzw. des Ausgebranntseins (s. auch „fehlende Bindungsfähigkeit“).

Ein wichtiger Bereich der Fremdsteuerung im Jugendlichen und Erwachsenenalter ist der Umgang mit Geld: Ein rationaler Umgang mit Geld kann nicht erlernt werden, deshalb ist dauerhaft eine Geldzuteilung durch eine Betreuungsperson erforderlich. Erfahrungsgemäß ist der Klient schon mit einer Geldeinteilung über eine Woche überfordert. (Wir empfehlen bei Erwachsenen in vielen Fällen eine gesetzliche Betreuung mit Einwilligungsvorbehalt).

In der Behindertenbetreuung sollte darauf geachtet werden, dass keine „schwächeren“ Personen, also Personen mit einer stärkeren Behinderung, für eine Partnerschaftsbeziehung ausgewählt werden. Aufgrund der mangelnden Fähigkeit des Klienten mit einer anderen Person „mit zu fühlen“ werden die Partner sonst nach kurzer Zeit Objekte explorativen Verhaltens, das bei ihnen zu erheblichen körperlichen und seelischen Schäden führen kann.

In der Eltern und Familienarbeit wird man in der Regel feststellen, dass die Angehörigen nur unzureichend über die Symptomatik ihres Kindes bzw. Angehörigen aufgeklärt sind. Deshalb sollten die Angehörigen über die Probleme der leichten frühkindlichen Hirnstörung und die Grenzen der  Entwicklungsfähigkeit ihres Kindes bzw. Verwandten aufgeklärt werden. Insbesondere sollte man darauf hinweisen, dass es sich um eine nicht reparable Behinderung handelt und dass sie keine Schuld an der Symptomatik haben.