Entwicklungsstörungen – Verhaltensauffälligkeiten – Lernprobleme
Wir brauchen eine neue (Grund-) Schule


Das Problem

Die Verhaltens- und Lernschwierigkeiten von Kindern in der Grundschule haben in den letz-ten Jahren massiv zugenommen. Dabei treten die Probleme nicht nur bei Kindern aus „sozial schwierigen Milieus“ oder aus einem Migrationshintergrund auf sondern auch bei Kindern aus gut situierten Familien. In den 90-er Jahren meinte man, die Ursache gefunden zu haben: „ADS“. Von Seiten der Medizin bzw. der Pharmaindustrie wurde suggeriert, dass es sich da-bei um ein genetisches Phänomen handele, das unabhängig von Umwelt und Lebensbedin-gungen auftrete und das ausschließlich mit medikamentösen Mitteln („Ritalin“) behandelt werden könne. Gerne schlossen sich die verantwortlichen Erziehungspersonen – und in vor-derster Front Lehrer in Grundschulen – dieser Einschätzung an. Bedeutete sie doch, dass kei-nerlei Ursache- Wirkungszusammenhang zwischen dem Verhalten der Erwachsenen und dem unerwünschten Verhalten der Kinder hergestellt werden konnte und dass bei Vergabe des „Wundermittels“ Ritalin auch keine Verhaltensänderung der Erwachsenen notwendig sei. Der aus dieser Sicht- und Vorgehensweise resultierende Scherbenhaufen ist heute unüberseh-bar: Die Nachfrage nach Plätzen in der stationären Jugendhilfe ist trotz sinkender Geburtenra-ten größer denn je, und sie wächst weiter. Werkstätten für behinderte Menschen nehmen unter dem Etikett „psychische Behinderung“ immer mehr junge Menschen mit massiv unterentwi-ckelter Persönlichkeit („Junge Wilde“) auf und können kaum genügend Plätze schaffen, um der steigenden Nachfrage gerecht zu werden. Das gleiche gilt die unterschiedlichen Formen des betreuten Wohnens im Rahmen der Eingliederungshilfe. Schaut man sich die Störungs-anamnesen der jungen Menschen an, findet man im Verlauf fast ausnahmslos die Diagnose „ADS“.

Ursachenforschung

Beschäftigt man sich näher mit dem einzelnen Kind oder jungen Menschen, fällt bei fast je-dem die eingeschränkte Kontakt- und Beziehungsfähigkeit auf. Immer fehlt es auch an Selbstbewusstsein, oft ist die Fähigkeit Wertbezüge herzustellen unterentwickelt. Die Frustra-tionstoleranz ist gering – Frustrationen führen zu Fluchtverhalten oder Aggressionen. Es treten damit die typischen Symptome auf, die aus einer unzureichenden emotionalen Versorgung des Kindes durch erwachsene Personen, d.h. aus einer unzureichenden Bindungserfahrung resultieren. Die Ursache für die Verhaltens- bzw. Entwicklungsstörungen bei den Kindern und Jugendlichen ist demnach nicht etwa organischen Ursprungs sondern das Verhalten der er-wachsenen Personen! Da die Probleme der Kinder heute eher ein Massen- statt ein Einzelphänomen sind, müssen wir davon ausgehen, dass die Fähigkeit, Kinder adäquat (emotional) zu versorgen, in den Fa-milien zunehmend verloren geht. Die Indizien dafür sind vielfältig: erhöhter beruflicher Stress der Eltern, vielfältige Anregungen und Anforderungen, die den für das Kind zur Verfügung stehenden Zeitrahmen verringern, ein Wertewandel, der das Elternsein gegenüber Karriere und persönlicher Entfaltung abwertet, usw. „Selbständigkeit“ schon ab der frühen Kindheit hat hohe Priorität in den Wertorientierungen und bei den Erziehungszielen. Doch finden sich die Familien mit dem Wandel an Einstellungen und Verhaltensweisen in der Erziehung bzw. der Betreuung der Kinder nicht allein; sie sind in guter Gesellschaft der pädagogischen Fachleute und Institutionen. Siehe z.B. in Kindergarten und Schule die Einstellung zu „ADS“ und „Ritalin“. Auch die pädagogischen Fachleute schieben damit das Problem aus ihrem Verantwortungsbereich heraus, so dass sie institutionell und persönlich nicht gefordert sind, oft oder sogar in der Regel wider besseren Wissens. Die berechtigten Argumente der Schule sind: wegen der Größe der Klasse kann man sich nicht dem einzelne Kind widmen, der Lehrplan muss erfüllt werden, die Fehler der Eltern kann der Lehrer nicht kompensieren, usw. Zudem unterliegt jeder Lehrer auch den Einflüssen des allgemeinen gesellschaftlichen Wertewandels.

Wie lernen Kinder?

Kinder können nicht autonom überleben. Sie sind auf die materielle, emotionale und intellek-tuelle Versorgung durch Erwachsene angewiesen. Stress oder Probleme können sie nur in Anbindung an eine erwachsene Person verarbeiten. Kinder verfügen über eine angeborene Lernmotivation (sog. „exploratives Verhalten“). Diese kommt jedoch nur dann zum Einsatz, wenn das Kind eine „sichere Bindung“ an eine erwachsene Person hat. Sichere Bindung be-deutet, dass das Kind über vorsprachliche Kommunikationskanäle (Körperkontakt, Riech-,Sicht-,Hörkontakt) mit dem Erwachsenen verbunden ist. Fremde Reize bzw. Situationen können vom Kind zunächst nicht allein verarbeitet werden – im Rahmen der „sicheren Bin-dung“ werden die Reize von der erwachsenen Bindungsperson verarbeitet und damit für das Kind „verdaubar“ gemacht – das Kind bleibt in einem entspannten Zustand und entwickelt „exploratives Verhalten“. Verfügt das Kind nicht über eine solche sichere Bindung, entsteht aufgrund einer fremden Situation oder eines fremden Reizes ein Spannungszustand, der das explorative Verhalten ausschaltet. Das Kind ist nicht in der Lage diesen Spannungszu-stand aus eigener Kraft abzubauen. Aufgrund der Erfahrung einer sicheren Bindung in den ersten zwei Lebensjahren beginnt das Kind langsam fremde Situationen eigenständig zu verarbeiten. Die Verarbeitung komplexer Anforderungen bedarf aber noch weit über das Grundschulalter hinaus der Bindung an eine erwachsene Person. Grundschulkinder lernen nicht rational autonom sondern über die Anbindung an den Lehrer. Besteht keine solche Anbindung stockt der Lernprozess und schwindet die Lernmoti-vation. Vielfach wir dies ausgeglichen, wenn Zuhause die Eltern oder eine andere Bezugsper-son das Kind bei den Hausaufgaben betreut. Geschieht das nicht, lernt das Kind nicht und es entwickelt Verhaltensauffälligkeiten.

Der 1st-Stand der Grundschule

1. Die Klassengröße
In der Regel besteht für Grundschulklassen eine Soll-Größe von 30 Schülern. Eine in-dividuelle Bindung zu jedem Kind aufzubauen, ist für den Lehrer unmöglich. Eine solche Klassengröße setzt bei den Kindern eine bereits entwickelte Gruppenfähigkeit voraus. Aber selbst wenn alle Kinder altersgemäß entwickelt wären, könnte der Lehrer nur bei einzelnen Kinder die vorhanden Ressourcen abrufen.

2. Lehrerkontinuität
Bindungsentwicklung als Grundlage für Lernen und den Erhalt von Lernmotivation braucht Kontinuität im persönlichen Bezug. Die Klasse in der Grundschule hat in der einen Klassenlehrer, der die meiste Zeit die Kinder persönlich unterrichtet. In der Regel ist der Klassenlehrer in der Unterrichtung bzw. pädagogischen Betreuung der Schüler weitgehend auf sich allein gestellt.

3. Der Lehrplan
Das Curriculum ist für alle Kinder gleich. Im Mittelpunkt steht die Vermittlung des vorgegebenen Stoffs. Auf den persönlichen Entwicklungsstand der Kinder kann nur begrenzt eingegangen werden. Dies erzeugt bei unterentwickelten Kindern permanent Überforderungen und damit „fremde Situationen“, die notwendigerweise in Verhaltensauffälligkeiten münden.

4. Die Rolle des Lehrers
Der Lehrer wird als „Wissensvermittler“ angesehen. Für eine grundlegende persönli-che Entwicklung bzw. Sozialisation des Kindes er nicht zuständig. Vielfach wird sogar ein persönliches emotionales Engagement des Lehrers für ein Kind als grenzüber-schreitend angesehen.

5. Elternarbeit
Eine Zusammenarbeit mit den Eltern ist im Grunde nicht vorgesehen. Bei Problemen des Kindes findet deshalb häufig ein gegenseitiges Zuschieben von Schuld und Verantwortlichkeit statt, ohne dass Lösungen entwickelt werden können.

6. Zusammenarbeit mit anderen pädagogischen Institutionen
Eine gemeinsame Planung von Erziehung oder Entwicklung des Kindes gibt es nicht. Jugendhilfe und Schule werden strikt getrennt.

Wie muss die Grundschule der Zukunft aussehen?

Wenn die Bindungsfähigkeit der Familien abnimmt, wird es erforderlich, dass öffentliche pädagogische Instanzen die Verantwortung für eine gelingende Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen übernehmen. Schule und insbesondere die Grundschule spielt dabei eine zentrale Rolle, weil sie für viele Kinder die kontinuierlichste Tagesstruktur und den kontinuierlichsten und zeitlich umfangreichsten Bezug zu einer erwachsenen Person bietet. Um diese notwendige Aufgabe übernehmen zu können, bedarf es der folgenden organisatorischen, pädagogischen und inhaltlichen Änderungen im Vergleich zu den vorher aufgeführten Punkten:

1. In der Grundschule der Zukunft darf die Klassengröße max. 10 Schüler betragen. Bei dieser Klassengröße ist es möglich, dass der Lehrer langfristig zu jedem Schüler einen Bezug entwickelt und damit die Grundlage für persönliche Kernerfolge legt.

2. Die Lehrerkontinuität für die Klasse muss erhalten und weiter verbessert werden. Bin-dungs- oder Beziehungsorientierte pädagogische Betreuung bedarf allerdings der Pla-nung und Reflektion. In dieser Hinsicht kommt der Schulleitung eine zentrale Rolle zu. Die Leitungsperson ist Berater und „Supervisor“ für die Betreuung jedes einzelnen Schülers. Eine derartige Leitung von ca. 10 Lehrern entspricht einer Vollzeittätigkeit.

3. Persönlichkeitsentwicklung und Entwicklung von Sozialverhalten ist wichtiger als Stoffvermittlung. Bei einer Klasse mit 10 Schülern ist eine individuelle Lehrplangestaltung möglich, die sowohl die intellektuelle Leistungsentwicklung als auch die Persönlichkeitsentwicklung umfasst. Die Lehrerausbildung bzw. –fortbildung muss hierfür erweitert werden.

4. Der Lehrer ist in erster Linie Bezugsperson der Kinder. Entscheidend für die Lehrerauswahl ist die Persönlichkeit des Lehrers und seine Fähigkeit, Kindern eine Bezie-hung anzubieten und sie zu erziehen.

5. Professionelle Elternarbeit: Die Schule entwickelt Professionalität darin, mit Eltern soweit zusammen zu arbeiten, dass man sich bei der Erziehung und Entwicklung des Kindes gegenseitig unterstützt und nicht blockiert.

6. Schule und Jugendhilfe müssen gemeinsam planen und arbeiten. Die grundsätzliche Trennung von Schulsozialarbeit und Bezirkssozialarbeit des Jugendamtes ist nicht sinnvoll. Die Zusammenlegung der Ressourcen wird der erweiterten Aufgabe der Schule eher gerecht.

Die zukünftige Schule muss sich diesen veränderten Anforderung stellen. Tut sie es nicht, werden die Kinder und Jugendlichen nicht mehr in der Schule zu halten sein. Sie werden Schule verweigern und zerstören.