Das sozialemotionale Handicap (irreversible Bindungsstörung)
als Folge einer gravierenden emotionalen und physischen Unterversorgung
in den ersten 18 Lebensmonaten


Merkmale

Körperwahrnehmung:
Kalt-Warmemfindung eingeschränkt, Geschmacks-, Geruchswahrnehmung unterentwickelt, Schmerzwahrnehmung unrealistisch oder nicht vorhanden

Kontakt- Sozialverhalten:
Aufnahme von Körperkontakt zurückhaltend oder abwehrend, bei Ansprache eher angespannt, Einfühlungsvermögen begrenzt. Bindungen und Beziehungen instabil

Reaktion auf fremde Reize, fremde Situationen:
Ängstlich, vermeidend, abwehrend, fremde Situationen oder Anforderungen erzeugen Stress mit darauf folgender Fluchtreaktion oder aggressivem Ausbruch

Selbstwahrnehmung:
Selbsteinschätzungen entstehen ohne Realitätsbezug. Betonte (Schein-) Autonomie ist ty-pisch, in der Hilfestellungen häufig vehement abgelehnt werden. Es besteht kaum Zugäng-lichkeit für wohlmeinende Korrekturversuche.

Selbstbewusstsein – Selbstbestimmung:
gering, die Forderung nach Selbstbestimmung führt zu Überforderung mit Fluchtverhalten oder unkontrollierbaren Ausbrüchen.

Kognition und Emotion:
Kognitive Fähigkeiten in der Regel auf dem Niveau „Lernbehinderung“, evtl. auch „geistige Behinderung“. Im Einzelfall können die kognitiven Möglichkeiten nahezu denen eines normal intelligenten Menschen entsprechen. Die emotionale Entwicklung bleibt in jedem Fall auf einem frühkindlichen Stand mit dem entsprechenden Versorgungsbedürfnis. Rationale Kom-munikation bzw. Verarbeitung von Gesprächsinhalten ist minimal.

Tag- Nacht- Rhythmus:
Häufig gestört. Typisch sind Nachtängste, häufig verbunden mit Einnässen.

Ursachen

Die Symptomatik ist auf eine massive Unterversorgung in der frühen Kindheit (erste 18 Le-bensmonate) zurückzuführen. Stressabbau einerseits und die Entwicklung von Körperwahr-nehmung andererseits setzen eine (sichere) Bindung an eine erwachsene Person voraus. Be-steht eine solche Bindung nicht, kommt es zu Stillständen bzw. Rückentwicklung neurophy-siologischer Komponenten des Gehirns. Diese neurophysiologischen Schäden sind nicht komplett reversibel.

Betreuungs- Entwicklungsmöglichkeiten

Das Bindungssystem im Gehirn ist zwar unterentwickelt aber ansprechbar. Bindung kann über vorsprachliche Kommunikation, d.h. in der Regel über Körperkontakt und andere „nahe“ Kontakte (z.B. gemeinsame Riech- und Geschmacksübungen, Rhythmusübungen, Singen, usw.) aufgebaut werden. Auf Basis einer so etablierten „sicheren Bindung“ an eine Bezugsperson lassen sich bei den meisten der aufgeführten Merkmale erhebliche Fortschritte erzielen: Die Kontakt- und Bezie-hungsfähigkeit verbessert sich, Stress- bzw. Angstreaktionen wie Flucht und Aggressionen lassen nach oder treten nicht mehr auf. Die Körperwahrnehmung entwickelt sich. Durch die sichere Bindung auch die emotionale Ausdrucks- und Wahrnehmungsfähigkeit differenzierter. Allerdings erreicht sie nicht das Niveau von Erwachsensein. Sie bleibt auf einem Entwicklungsalter von ca. 10 Jahren stehen. Damit bleibt das Problem einer unrealisti-schen Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung erhalten.

Eine gänzliche Verselbständigung der Person ist nicht möglich. Fehlt eine Bindungsper-son, ist sie innerhalb kurzer Zeit überfordert und fällt wieder in die alte Symptomatik zurück.

Personen mit dem beschriebenen sozialemtionalen Handicap fallen daher unter SGB 9 § 2

„Behinderung“
(1) Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seeli-sche Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Le-bensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.“