Ursula und Helmut Johnson
Tradition und Moderne in einem türkischen Dorf


Ein Forschungsbericht

Das erste Projekt – sozusagen unser Pilotprojekt, nach der Gründung des Vereins ISAF – „Interkulturelle soziale Arbeit und Forschung“ war eine kleine Untersuchung in der Türkei in einem abgelegenen Bergdorf in der Umgebung von Antalya. Ausgewählt wurde dieser spezielle Ort durch die Tatsache, dass bereits ein Kontakt bestand, der die Basis für die Forschungsarbeit sein konnte. Unser Forschungsteam bestehend aus fünf Personen, setzte sich zusammen aus den beiden Praktikanten – eine Studentin der Sozialpädagogik und ein Student der Soziologie, einem Sozialarbeiter einem Diplom Psychologen und einer Soziologin M.A.. Als Methode wendeten wir eine systemisch orientierte Interviewtechnik an, ausgeführt von instruierten Interviewern mit guten türkischen(muttersprachlich) und deutschen Sprachkenntnissen, ausgewertet mit qualitativen Methoden der Sozialwissenschaften. Für uns stand die Frage nach den aktuellen Lebensbedingungen im Vordergrund, welche Lebensbedingungen bringen welche Deutungsmuster und welche Handlungsweisen hervor, oder wieweit lassen sich Modernisierungstendenzen bzw. Individualisierungstendenzen feststellen. Wie gehen die Menschen mit der Übergangssituation um, arrangieren sich mit neuen Bedingungen, lösen Verbindlichkeiten auf oder halten alte Sicherheiten fest? Ausgehend von der Überlegung, dass sich den fortschreitenden Entwicklungen in der Welt niemand entziehen kann, dass sie sich in dem Sinne verselbständigt haben, dass sie sich ausdehnen und auch die letzten Winkel der Erde erfassen werden, gilt den dadurch entstehenden Veränderungen im Denken und Handeln unser besonderes Interesse.

Wir stellen die Ergebnisse unserer Untersuchungen unter verschiedenen Gesichtspunkten dar: Zu Beginn stellen wir kurz die örtlichen Verhältnisse und die aktuelle Situation dort vor. Anschließend erfolgt die systematische Darstellung der zentralen Erkenntnisse. Es zeichnen sich Differenzierungslinien ab, die sich aus der jeweiligen Lebenslage ergeben, Sie bilden einen Strang, den wir an erster Stelle darstellen werden, wobei auch schon einige wichtige Praktiken und Orientierungsmuster deutlich werden. Des Weiteren kristallisieren sich drei Hauptdeutungsmuster heraus, die wir anschließend darstellen wollen und ebenso drei besondere bzw. spezielle Handlungsmuster/Praktiken, die daran anschließend kurz geschildert werden. Im Fazit diskutieren wir unsere Einschätzungen und Schlussfolgerungen, wobei wir unser Augenmerk auf die Wandlungsprozesse und Veränderungen im Allgemeinen und im
Besonderen sowie deren Voraussetzungen und Folgen auf psychologischer Ebene richten. Zur besonderen Illustration mancher Zusammenhänge werden wir hin und wieder Originalzitate einfügen, diese kennzeichnen wir durch Kursivschrift und Anführungsstriche

Lage und Besonderheiten

Selge ist ein kleines Bergdorf, tief bzw. hoch im Taurusgebirge gelegen. Seine Besonderheit liegt nicht nur in der äußerst abgeschiedenen Lage sondern auch in der direkten Nachbarschaft einer alten römischen Siedlung, in deren Ruinen das Dorf geradezu eingebettet liegt. Diesen Ruinen galt schon seit fast hundert Jahren das Interesse von wissenschaftlichen Forschungen Es existiert z.B. eine Veröffentlichung von österreichischen Architekturwissenschaftlern „Bauforschung in Selge“ von Alois Machatschek und Mario Schwarz, Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften 1981, die viele interessante Daten zur römischen Anlage liefert. Im letzten Abschnitt dieses Buches zu der Thematik römische Bauwerke findet sich ein kurzer Abschnitt „Das Dorf und seine Bewohner“, in dem dargestellt ist, wie sich das Dorf mit den römischen Hinterlassenschaften verbunden hat, die Häuser stehen teilweise mitten in den Trümmern, haben Teile aus dem ehemaligen Theater in ihre Bauten integriert als Türoder Fensterrahmen beispielsweise, ohne dass die Dorfbewohner irgendeinen Bezug zu diesen Ruinen erkennen lassen. Ebenso weist diese Studie hin auf die vielfältige Unterschiedlichkeit in dem Aussehen der Bewohner, sie bilden ein buntes Gemisch in Bezug auf Haarfarben, Augenfarben wie man es in so einem engen Lebensraum nicht erwartet. Man trifft rothaarige und blonde Menschen ebenso wie schwarzhaarige mit blauen oder grünen Augen, besonders eindrucksvoll erkenntlich bei den Kindern. In Bezug auf die Kleidung hat sich aber einiges geändert seit dem Erscheinen der Bauforscher, sie berichten noch, dass die Bewohner im „landestypischen Schwarz“ gekleidet seien und häufig die „rote Kappe“ – von den Männern – getragen würde, so sieht es heute nicht mehr aus. Die Kleidung ist eher bunt, besonders bei den Frauen, nur die alten Männer tragen eine meist schwarze Kappe, die Frauen bunte Pumphosen oder hin und wieder – als junge Mädchen meistens – auch Jeans, meist aber mit traditionellem Kopftuch.

Der Nationalpark ist daher eine der Bedingungen, die das Leben in dem Bergdorf prägen. Er ist die Folge der Tatsache, dass sich das Dorf in direkter Nachbarschaft von der antiken aus der Römerzeit stammenden Anlage angesiedelt hat, teilweise direkt auf den Überresten und unter häufiger Verwendung vorgefundenen Baumaterials, so dass das gesamte Dorf und seine Umgebung zu einer historischen Kulturstätte erklärt wurde. Durch die offizielle Führung als Nationalpark unterliegt das Dorf und seine Umgebung auch den strengen Nationalparkbestimmungen Die Bewohner dürfen nach den Bestimmungen nichts mehr verändern, nicht um- an- oder neu bauen, sie müssen die Gebäude so lassen, wie sie seit ihrer Erbauung waren, sie dürfen kein Holz schlagen in der nahen Umgebung, sollen stattdessen das Holz jetzt kaufen, was an Ironie grenzt, sollen alles beim alten Status belassen. Dies führt zu Verärgerung und Klagen, denn es fehlt an fließendem Wasser, Wohnraum, modernem Wohnkomfort usw. Kontrast: Alle Dorfhäuser bis auf eins einschließlich die Schule müssen ohne fließendes Wasser auskommen, also auch ohne entsprechende Sanitäranlagen, sie holen Wasser aus Zapfstellen im Dorf Aber: Es gibt eine nagelneue luxuriöse Toilettenanlage zum späteren Gebrauch für Nationalparkbesucher am Dorfeingang. Sie ist jedoch abgeschlossen, weil noch nicht eingeweiht durch einen Minister!!!

Gleichzeitig war aber dieses Dorf schon seit ungefähr 100 Jahren ein Anziehungspunkt für Forscher und Touristen, die besonders seit die Straße existiert, regelmäßig zu Besuch kamen um die Ruinen zu besichtigen bzw. zu erforschen, und so das weit abgelegene Dorf in Kontakt mit der modernen Welt brachten.

Die Menschen im Dorf leben unter einfachsten Bedingungen. Das Leben spielt sich hauptsächlich im Freien ab, die Kochstellen liegen draußen, es gibt keine Wasserleitung, der Wohnraum ist äußerst begrenzt. Elektrizität ist inzwischen angekommen im Dorf (seit ca. 1990), sie gibt die Möglichkeit, sich an das Gesamtnetz anzuschließen, aber sie kann nur partiell genutzt werden, je nach finanzieller Lage der Einzelnen, auch fällt die Elektrizität häufig aus, im letzten Winter für mehrere Monate.

Mit der Elektrizität kamen die modernen Kommunikationsmedien in manche Häuser, Telefon und Fernsehen, die das Dorf forthin mit der Außenwelt verknüpfen. Der Tagesablauf der immer im Dorf lebenden Personen wird bestimmt durch die äußerlichen Bedingungen: Wasser holen an den Brunnen, Holz sammeln zum Kochen, Ziegen hüten, und Nahrungszubereitung. Die Zeit verstreicht langsam im Dorf, die meisten notwendigen Tätigkeiten sind schnell erledigt, dann beginnt das Warten. Die Tagesstruktur ist immer gleich, Abwechslung bringen nur hin und wieder Besucher, meist Touristen, die die Ruinen besuchen wollen.

Aktuelle Situation

Bei der Ankunft in Selge spürten wir sofort, dass die Situation auf eine bestimmte Weise deutlich angespannt war. Kinder bewarfen unsere Autos mit Stöcken und die Bewohner empfingen uns reserviert und abwartend. Wir erfuhren dann von unserem Kontaktmann, dem Lehrer, dass die Bewohner auf Autos mit Nummernschildern aus Ankara nicht gut zu sprechen waren, weil sie diese mit Regierung und Beamten aus der Nationalparkleitung identifizierten. Wir hatten auf unseren Wagen ebenfalls Nummernschilder aus Ankara, weil es Leihwagen waren. Nachdem dieses Missverständnis aufgeklärt werden konnte, und wir erklärt hatten, dass wir nichts mit den entsprechenden Behörden zu tun hatten, besserte sich die Stimmung und am zweiten Tag wurden wir schon als zugehörig eingestuft, was sich darin ausdrückte dass sie sagten „Da kommen unsere“, wenn wir die Straße entlang gefahren kamen.

Die Interviewsituation gestaltete sich nach der anfänglichen mühsamen Aufwärmphase dann als ergiebig und harmonisch. Viele Bewohner nahmen sich die Zeit und gaben uns bereitwillig Auskunft, so dass wir keine Probleme hatten, das entsprechende Material zu erhalten.

Eine Einschränkung ist allgemein noch zu machen, es gibt auch noch einige Dorfbewohner, die uns sehr misstrauisch betrachteten, sie lehnten jeglichen Kontakt ab, drehten sich fort,
wenn wir uns näherten und wurden sogar sehr böse, wenn sie sahen, dass wir etwas fotografieren wollten. Insofern beziehen sich unsere Ergebnisse nur auf die Menschen, die uns gegenüber offen und aufgeschlossen eingestellt waren und bereit, die Technik des Aufnehmens
und Fotografierens zu dulden.

Systematik – Darstellung der Ergebnisse

Die Dorfbewohner beschreiben alle ihre nicht beneidenswerte Situation: kein Wasser, kein Arzt, keine Medikamente (aber neuerdings gibt es Süßigkeiten, Kaugummi und Chips im Cafe-Laden, den besonders die Schulkinder, aber auch die jungen Leute regelmäßig besuchen, um ihre Umsätze einzutauschen gegen diese Genüsse), keine Arbeit, keine Erlaubnis zur Sanierung ihrer Häuser um die Lebenslage zu verbessern (Nationalparkbestimmungen), kein Geld, um wegzugehen. Die meisten heben aber auch die gute Luft und das angenehme Klima als Vorteil hervor.

Differenzierungslinien:

Differenzierungslinien zeigen sich in mehreren Lebensbereichen, sie beinhalten die Erfahrungen, die für die Lebensgestaltung eine große Bedeutung haben, ob man männlich oder weiblich ist, die Generationszugehörigkeit, der Status bzw. der Zugang zu Erwerbsmöglichkeiten oder Bildungsinstitutionen. Hier zeigen sich die Voraussetzungen, die bestimmend auf die Handlungsfähigkeit von Personen einwirken.

Die Generationenzugehörigkeit ist eine der am deutlichsten hervortretenden Unterscheidungskriterien, daher werden in diesem Abschnitt die Generationen getrennt nach GroßelternEltern und Jugend bzw. Kindergeneration beschrieben, wobei aber als zusätzlich differenzierende Größe noch die des Geschlechts eine wichtige Rolle spielt, so dass auch teilweise getrennt darauf eingegangen wird. Zusätzlich sozusagen quer dazu verläuft noch eine weitere Differenzierungslinie, die der ökonomischen Basis einer Familie. Dies betrifft die Erwerbsmöglichkeiten bzw. die Fähigkeiten, sich auf dem Arbeitsmarkt zu etablieren oder weiterhin auf traditionelle Art den Lebensunterhalt zu sichern. Diese Art der Lebensweise bestimmt eklatant den Status und Lebensstandard der Personen.

Die Großelterngeneration ist häufig gekennzeichnet durch ihr Verhältnis zu dem Dorf als von den Vorfahren ererbten Stammsitz. Sie weisen gerne auf die Ahnen hin, die sich an dieser Stelle angesiedelt haben, so dass für sie selbst kein anderer Wohnort in Frage kommt. „Unsere Ahnen haben sich zwar hier niedergelassen, aber sie haben einen riesigen Fehler begangen“. Diese Generation zeigt weniger Unterschiede in der Kategorie Geschlecht, sondern es gibt eine große Trennungslinie zwischen denen, die es nie geschafft haben, sich auf dem Arbeitsmarkt einen Lebenserwerb zu sichern und denen, die auf diesem Gebiet erfolgreich waren. Ein Teil der von uns befragten Personen weilte gerade zur Kastanienernte im Dorf, lebte aber ansonsten außerhalb in einer kleinen Stadt wegen Arbeit und besseren Lebensbedingungen. Diese kamen regelmäßig zu Besuch ins Dorf zurück, rühmten die gute, gesunde Luft, kehrten aber jeweils wieder in ihr „normales“ Leben in der Stadt zurück, worauf besonders die Frauen sehr großen Wert legten – wegen der Annehmlichkeiten und des komfortableren Lebens hauptsächlich. Eigentlich wünschten immer die Männer den Besuch im Dorf, wollten die Verbindung nicht kappen „Na ja, unsere Vorfahren stammen von hier, wir sind hier geboren, …man soll nicht vergessen, wo man herkommt, “ aber schon ihre Nachkommen kamen nicht mehr mit, zeigten kein Interesse mehr am Dorf, zu primitiv, zu unbequem. Die anderen, interessanterweise hauptsächlich alleinstehende alte Männer, leben resigniert dem Ende entgegen, erwarteten nichts mehr vom Leben, „Meine Arbeit ist es zu liegen“„Unsere Zeit ist abgelaufen, Wir haben wenig Hoffnung, dass sich hier noch etwas ändern wird“, „Ich hab keine Zukunft, ich lebe so vor mich hin und hoffe, das nicht alles noch schlimmer wird.“ Befragt dazu, wie es früher war, zeigen sie alle wenig Bereitschaft, viel zu erzählen, sie berichten einstimmig darüber, vor sich hin gelebt zu haben, ohne sich Gedanken über das Jetzt oder gar die Zukunft zu machen. „Wir haben in den Tag hinein gelebt“ Sie sagen über ihren Ort: „Hier gibt’s doch nichts, nur Steine und die gute Luft“

Die Vorfahren werden nicht als eigenständige Personen betrachtet, die etwas weiter gegeben haben, die eine beschreibbare eigenständige Person waren, sondern als Ahnen im kollektiven traditionellen Sinn. Sie wirken nicht als Ressource, die einen Überlebensplan vermitteln, sondern als Kette, die einen festhält an der Stelle, an der man ist, sie lassen keinen Spielraum zu, und auch keine persönliche Beziehung, sie dienen der Rückwärtsorientierung, die jede Innovation verhindert. Der Blick ist nach rückwärts gerichtet, die Gestaltung der Zukunft nicht möglich, man wird festgehalten, kann nicht planen, nicht selbstbestimmt gestalten, die Zukunft erscheint als vorprogrammiert bzw. nicht mehr vorhanden.

Interessanter Gesichtspunkt: Manche der männlichen Dorfbewohner nennen sich Yörek – d.h. wörtlich übersetzt Nomaden, und das bedeutet, sie sind in der Vergangenheit gewandert, waren nicht dauerhaft sesshaft. Heute dagegen sehen sie sich nicht mehr in der Lage, ihren Wohnort zu verlassen, sind verurteilt zum Bleiben. Das Dorf nicht verlassen zu können, weil sie woanders nicht leben können, sind sie nicht mehr fähig zu sozialer und räumlicher Mobilität, wie es die ursprüngliche Lebensweise der Nomaden noch verlangt hat. Insofern hat sich ihre Lebensweise ins Gegenteil verkehrt, sie übermitteln dem Wort für Nichtsesshaftigkeit einen anderen Sinn, den von Einheimisch sein, was ihnen aber nicht bewusst zu sein scheint.

Die Elterngeneration
Die Personen dieser Generation lassen sich unter zwei Aspekten betrachten: Der erste Aspekt betrifft ihre Erwerbssituation: Sie unterscheiden sich dadurch, wie und wovon sie leben. Der eine Teil hat es geschafft, für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten, auf moderne Art Leistung gegen Geld tauschen – dazu müssen sie(Männer) das Dorf verlassen und in der Stadt erfolgreich einer bezahlten Arbeit nachgehen – oft bleiben die Frauen mit den Kindern im Dorf zurück und leben ein einsames Familienleben mit nur selten anwesendem Vater. Der andere Teil der Dorfbewohner versucht das Überleben auf traditionelle Art zu sichern, was mühsam und meistens nicht gerade einträglich ist. Es bedeutet auch, nicht aus dem Dorf herauskommen und nur äußerst bescheidene Lebensbedingungen zur Verfügung zu haben. Der zweite Aspekt betrifft die Einstellung zum Leben und zur Zukunft.

Die eine Gruppe, die in unserem Sinne berufstätig ist, bewertet Leistung und Arbeit durchaus positiv, „Ich sage immer, wer arbeitet, der bleibt auch nicht hungrig“ „Du kriegst für deine Leistungen etwas zurück, das hast du hier (im Dorf) nicht“. Diese Gruppe schaut nach vorn, passt sich scheinbar mühelos an neue Anforderungen an, denkt in neuen Bahnen. Für die Zukunft formulieren sie Ziele und Pläne, Verbesserungen und Erleichterungen wie eine Waschmaschine oder getrennte Wohnräume, eine gute Schulbildung für die Kinder ist auch ein vorherrschendes Ziel. Insgesamt betrachten sie ihr Leben als erfolgreich, wenn auch teilweise bei den im Dorf zurückbleibenden Frauen großes Bedauern herrscht über die oft lange Abwesenheit der Männer, einige am liebsten mit das Dorf verlassen würden, um bei den Männern in der Stadt zu leben, ja sie sich grundsätzlich aus dem Dorf herauswünschen, weil sie meinen, nicht mehr dazuzupassen, nicht mehr hergehören…Zit. Die andere Gruppe hat es zum Teil versucht, außerhalb zu arbeiten, konnte aber nicht Fuß fassen im Arbeitsleben, bewertet aber das Leben im Dorf auch negativ, so dass sie wirklich ohne jede Perspektive sitzen und abwarten und ihre ganze Hoffnungslosigkeit formulieren als sinnloses Dasein „Unser Alltagsleben verbringen wir mit trostlosem Nachdenken…Ich sehe die Zukunft sehr schwarz“ Das Leben in der Stadt können sie nicht ertragen, z.B. die Arbeit in der Tourismusbranche, das Leben auf dem Land bzw. im Dorf auch nicht. Sie beneiden die anderen um ihre Möglichkeiten, beobachten sie den ganzen Tag und kommentieren jedes kleine Vorkommnis, klagen und lamentieren über Ungerechtigkeiten, können aber selbst nichts an ihrer Lage ändern. All ihre Hoffnungen lasten auf den Kindern, die sollen es besser haben, müssen es aber auch besser machen, d.h. sie werden angetrieben von den Erwartungen der Eltern. Durch diese hohe Erwartungshaltung und Disziplinierung gegenüber den Kindern verlieren die Eltern aber auch für sich selbst die Möglichkeit der Erfahrung, Gefühle zuzulassen und als Ressource zu nutzen. Sie müssen ihre Gefühle ebenso kontrollieren und disziplinieren, wie die Kinder, so dass auch sie selbst unter einem ständigen Druck stehen, den sie nicht lockern können. Sie betrachten die Kinder nicht als Fortsetzung ihrer eigenen Geschichte, an der sie beteiligt sind, der sie etwas weiter zu geben haben: „Unsere Kinder sind fern von uns… wir sind fern von ihnen“ ist nicht nur räumlich zu verstehen, spiegelt gesamte Erfahrung und Vorstellung wider.

Die Elterngeneration formuliert fast durchgehend ihre mangelnde Schulbildung als Grund für ihre jetzige Lage. Sie haben in der Regel nur vier Jahre Grundschulzeit absolviert und bezeichnen sich als „Ungebildet“. Darauf sind auch die häufigen Streitereien in der Familie zurückzuführen, wird interpretiert, sonst wüssten sie es ja besser und würden z.B. „nicht schlagen“. Mit mehr Bildung als Schul- oder Ausbildung müssten die Menschen auch in der Lage sein, ihre Beziehungen zu regeln, durch Kommunikation und friedlich. Für sie selbst gilt „das Ungebildetsein“ aber möglicherweise auch als Entschuldigung, für das Nichtvermögen, eigene Beziehungen bereits gewaltfrei zu führen, wie an dem Verhältnis zu den Kindern deutlich wird.

Die Jugendgeneration – hier standen uns nur weibliche Vertreter – Mädchen zur Informationsgewinnung zur Verfügung, junge unverheiratete Männer haben wir nicht befragt, sie waren zum großen Teil auswärts in Arbeitsangelegenheiten unterwegs bzw. die Vertreter, die scheinbar im Dorf anwesend waren, wir trafen sie in einem „Teegarten“ an wo sie bis dahin wohl zwanglos zusammen saßen, sie verschwanden jedoch sofort um die nächste Ecke, als wir den Garten betraten. Zwar tauchte immer wieder der eine oder andere in besagtem Garten auf, vordergründig um „Besucherzucker“ – (gemeint ist Würfelzucker U.J.) – zu erstehen, wie unsere Informantin erklärte, sicher aber auch, um die Situation zu beäugen möglicherweise in ihrer männlichen Funktion auch zu kontrollieren, ohne aber Kontakt zu irgend jemandem aufzunehmen.

Während ein Teil der männlichen Jugendlichen scheinbar schon auf dem Weg ist, sich den neuen Anforderungen zu stellen, sie gehen häufig in die weiterführenden Schulen, leben dazu bei Verwandten in der Stadt, oder gehen schon Erwerbstätigkeiten außerhalb des Dorfes nach, bleiben doch auch junge Männer im Dorf, es ließ sich nicht feststellen, aus welchen Gründen und welcher Tätigkeit sie möglicherweise nachgingen, sie waren unsichtbar für uns, ließen kein Kontakt- bzw. Kommunikationsbedürfnis erkennen. Ob es ihr geringer Status als unverheirateter Mann nicht zulässt, mit uns zu sprechen oder ob es möglicherweise an persönlichen Unzulänglichkeitsgefühlen bzw. mangelndem Selbstbewusstsein, entstanden aus den repressiven Erziehungsmethoden, liegt, was unsere Vermutung wäre, lässt sich nicht eindeutig klären. Für die Mädchen liegt der Fall etwas anders, denn aufgrund der traditionellen Ehrevorschriften können sie nicht allein das Dorf verlassen, z.B. um eine Schule zu besuchen oder eine Ausbildung zu machen. Was für manche Stadtmädchen schon Selbstverständlichkeit sein kann, sieht hier im Dorf noch ganz anders aus. Die jungen Mädchen leben ein Leben zwischen Traum und Realität. Sie träumen von der Freiheit, von den Möglichkeiten, den strengen Bestimmungen und Vorgaben entkommen zu können. Sie kennen die Unterschiede, wie ihre Geschlechtsgenossinnen in der modernen Welt leben. Sie träumen an erster Stelle von der Möglichkeit, zu arbeiten, ihr eigenes Geld zu verdienen was bedeuten würde, Freiräume zu erhalten, die sie nach eigenen Vorstellungen nutzen könnten. Sie nennen alle an erster Stelle das Bedürfnis nach Arbeit, dabei schwanken die Vorstellungen zwischen den Bereichen Verkäuferin in einer Boutique bis hin zum Traum von der Lehrerin. Es geht immer um den Wunsch selbständig Geld zu verdienen, verbunden mit Vorstellungen von Auto fahren, eine eigene Wohnung haben, Anschaffungen machen zu können ohne Erlaubnis zu brauchen, und nicht zuletzt die Möglichkeit, Männer treffen zu können, sie kennen zu lernen, ehe man überhaupt an eine Verheiratung denkt. Demgegenüber steht ihre aktuelle Situation: Sie empfinden das Leben im Dorf als eng und unbefriedigend, „Wir sitzen leer“ Sie beklagen alle, dass sie „nicht geschickt werden“, zur weiterführenden Schule, zur Ausbildung usw. D.h. sie sehen sich festgehalten von den alten Mustern, die Eltern haben das Recht auf ihrer Seite, sie bestimmen den Freiraum. Die Mädchen geben alle an, mit den Vätern darüber zu diskutieren, denn die sind die letzte Instanz, aber letztendlich fügen sie sich in deren Entscheidungen, um „ihnen nicht das Herz zu brechen“. Sie träumen von der Freiheit, und kennen keinen Weg, um sie zu erlangen. Sie wissen, dass es anders geht, dass für andere Mädchen der Weg schon frei ist, sie beneiden diese Mädchen, aber sie können für sich selbst den Absprung nicht machen. Die meisten Aussagen machten die Mädchen zum Thema Heiraten und Partnerwahl, nämlich in der Regel dahingehend, dass sie sich wünschten, die möglichen Kandidaten für eine Eheschließung erst einmal kennen lernen zu können, ohne einen Bräutigam unbekannt verpasst zu bekommen. Weiterhin wollten sie sich nicht mehr nach traditioneller Maßgabe verheiraten lassen, sondern lehnten die bereits gemachten Vorschläge ab. Dafür fanden sie sogar sehr rationale Begründungen, wie gesunde Kinder haben zu wollen, – die vorgeschlagenen Ehepartner stammen oft aus der Verwandtschaft – selbst wenn sie dafür in Kauf nehmen müssen, unverheiratet, als spätes Mädchen sozusagen im Dorf bleiben zu müssen, im Haushalt der Eltern.

Die Kinder: Die Kinder werden geradezu überlastet mit Hoffnungen und Forderungen seitens der Eltern. Sichtbar wird ein hohes Maß an Leistungsdruck, der auf die Kinder ausgeübt wird, sie sollen um jeden Preis in der Schule Erfolg haben. Die Erwachsenen lassen den Kindern keinen Freiraum, fordern und kontrollieren deren Höchstleistungen, was in vielen Fällen zuStörungen wie Bettnässen, Ängstlichkeit aber z.B. auch Tierquälerei -von uns beobachtet an Katzen- führt. Bettnässen ist gerade bei den kleinen Jungen sehr verbreitet im Dorf, unverhältnismäßig häufig verglichen mit der geringen Bevölkerungsdichte, was die Mütter auch nicht verschämt verschweigen, sondern eher drastisch und emotionslos formulieren „…der mittlere pisst..“. Die Gefühle zu den Kindern können nicht zugelassen und gelebt werden, an erster Stelle steht die Disziplin, der Druck, durch ihre schulischen Erfolge die Zukunft der Eltern zu retten „Wir haben die Kinder mit sehr viel Disziplin erzogen. Ich habe ihnen nie Zuneigung gegeben“. An keiner Stelle ließen sich Belege für ein Recht auf Kindheit, wie es in unserer Gesellschaft zur Norm geworden ist finden.

Gender – Differenzierungslinie Geschlecht

Es spielt eine große Rolle, ob man männlich ist oder weiblich, in Selge.

Die Männer tragen einerseits die Last, für ihre gesamte Familie sorgen zu müssen, auch dafür, außerhalb Arbeit aufnehmen zu müssen, mit der Vorgabe weit entfernt von der Familie oft über lange Zeit allein in der Welt zurechtkommen zu müssen. Andererseits wehren gerade sie sich gegen jede Veränderung, betrachten sie als Gefahr, reagieren mit unverhältnismäßiger Strenge und Rigidität auf Anforderungen von den einzelnen Familienmitgliedern, speziell den weiblichen. Besonders wenn die Mutter fehlt, was in einigen der interviewten Familien der Fall war, zeichnen sie sich durch Ablehnung aller „gefährlichen“ Tätigkeiten aus, wie z.B. „in der Stadt etwas erledigen“.

Die Frauen dagegen zeigen einerseits mehr Bereitschaft, sich mit den neuen Möglichkeiten auseinander zu setzten, wollen auch einfach neue Wege erforschen, erste Schritte in anderen Bahnen versuchen, lassen sich aber andererseits nach wie vor durch die Autoritäten ausbremsen. Einige Frauen haben sich den stetigen Touristenstrom zunutze gemacht und bieten selbstgefertigte Artikel zum Kauf an, aber auch Führungen zu den Ruinen und haben zu dem Zweck schon eine beachtliche Kapazität an Fremdsprachenkenntnissen erworben, sie begrüßten uns deutsch und konnten einfache Gespräche führen. Dies bietet ihnen die Chance, aus dem Alltagstrott auszubrechen und sich ein kleines Maß an Eigenständigkeit zu schaffen, denn sie erhalten Bargeld, mit dem sie eigene Ziele verfolgen können. Manche Frauen ergreifen die Möglichkeit, sich der allgegenwärtigen Kontrolle zu entziehen, in dem sie ihre Sachen an der Brücke weit unterhalb des Dorfes anbieten, sie laufen zu Fuß dort hin und verbringen den ganzen Tag dort relativ frei, allerdings auch nur in Grenzen, denn in dem Moment, in dem wir dort zum Interview auftauchen, erscheint auch urplötzlich – ganz zufällig – ein männlicher Verwandter, der gerade so passend vorbeikam!

Die Geschlechter leben außerhalb der Familie streng getrennt, sie sollen in der Öffentlichkeit möglichst keinen Kontakt haben, das erfordert das strenge Konzept der Ehre. So ist es auch zu verstehen, dass die jungen Männer postwendend den Garten verlassen, als wir mit ein paar jungen Mädchen des Dorfes gemeinsam dort eintreffen. Die scheinbar zufälligen Einkäufe der jungen Männer wie auch der passend erscheinende Verwandte unter der Brücke dienen in diesem Sinne sicher nicht nur der Befriedigung der Neugier sondern vorrangig der Kontrolle, wie sie das strenge Ehrregime erfordert.

Familienstand

Zum Familienstand ist zu sagen, dass es in traditionellen türkischen Verhältnissen eine sehr große Rolle spielt, ob man verheiratet ist oder ledig. In der traditionellen türkischen Gesellschaft bedeutet Heirat besonders für die männlichen Partner Statusverbesserung, ein unverheirateter Mann hat nirgendwo Mitspracherecht, ein Mädchen schon gar nicht. Das Heiratsalter ist für unsere Begriffe sehr früh, besonders für Mädchen. Da sie häufig nur die obligatorischen fünf Jahre Schulbesuch absolvieren, leben sie danach solange als Mitläufer in ihrer Familie, bis sie heiraten, daher versuchen die meisten Eltern, sie früh unter die Haube bzw. das Kopftuch zu bringen.

Ökonomische Verhältnisse

Der Lebensstandard der Familien mit den außerhalb arbeitenden Vätern ist sichtbar höher, sie haben größere Häuser, Elektrizität und die entsprechenden technischen Geräte wie Fernseher und Telefon, die Kinder haben Spielzeug und sind modern gekleidet. Dieser Teil der Dorfbewohner hat die Überlebensfrage für sich gelöst durch berufliche Arbeit, nimmt sein Leben in die eigene Hand, trifft eine Wahl, nimmt z.B. die eingeschränkte Wohnlage in Kauf, um andere Vorteile wie gutes Klima, Ruhe und geruhsames Verbringen der Tage ohne Hektik zu erleben. Auch hier werden noch Wünsche und Bedürfnisse geäußert nach Verbesserungen der Lebensqualität im Bereich des Komforts, wie Waschmaschinen, der Möglichkeit anzubauen, um mehr Wohnraum zu schaffen, usw. aber insgesamt wird eine gewisse Zufriedenheit mit der persönlichen Lage sichtbar. Die anderen Familien leben meist in Einraumhütten, d.h. hauptsächlich wird darin geschlafen, das restliche Leben spielt sich im Freien ab. Dazu gehört das Kochen auf einfachen Feuerstellen ebenso wie das Waschen der Kleidung wie auch das Baden der Kinder in kleinen Zubern. Die Kinder laufen meist barfuss, ihre Kleidung ist sehr verschlissen. Der Lebensunterhalt wird auf traditionelle Art durch landwirtschaftliche Tätigkeiten in sehr kleinem Maßstab wie das Halten von ein paar Ziegen und Hühnern sowie dem Bewirtschaften eines kleinen Feldes gesichert. Mancher dieser Familienväter hatte es versucht, in der Stadt mit bezahlter Arbeit das Überleben zu gewährleisten, z. B. als Bäcker in einem Fall oder in der Tourismusbranche in einem anderen, konnte aber dort nicht leben und kehrte resigniert zurück ins Dorf. Die herkömmliche landwirtschaftliche Lebensweise reicht nur für ein sehr eingeschränktes Leben, Bargeld kann kaum erwirtschaftet werden, so dass auch keine neuen Bedürfnisse erfüllt werden können. Die Äußerungen über das Leben klingen resigniert und missmutig.

Deutungsmuster

Drei Erklärungsmodelle traten besonders deutlich hervor und sollen im Folgenden dargestellt werden.

1. „Negatividentität“ Die anderen sind schlecht“, nur dadurch kann ich gut sein
2. „Unmündigkeit“ Die anderen sind „Schuld“ an der eigenen Lage, Die Ahnen, die Väter, der Nationalpark, das Schicksal, die Gerechtigkeit
3. „Rettung vor dem Dorf“ – Die Zukunft liegt in der Stadt und in der Bildung

1. Negatividentität „Die anderen sind schlecht“

Abgrenzung und Ablehnung gegeneinander bis hin zu Feindlichkeiten beherrschen das Denken der Dorfbewohner und verhindern scheinbar die Möglichkeiten der Solidarität und des Zusammenhalts aber auch die Möglichkeit der persönlichen Weiterentwicklung auf die Frage nach ihrem jeweiligen Leben formulieren viele Dorfbewohner in erster Linie nicht ihre persönlichen Lebensumstände und Anschauungen sondern schildern erst einmal ausführlich, wie schlecht die anderen in ihrer Umgebung sind „Die Leute lästern übereinander und verraten sich gegenseitig.. die Nerven liegen blank“ Ob sie zu viel „kriegen“, weil sie an einem strategisch günstigen Platz ihr Cafe betreiben, in ihrem Garten Männer empfangen, ihnen Tee servieren, wenn sie eine Frau sind, oder viele Kinder haben, die auch nicht gut in der Schule lernen, erst einmal wird sich lang und breit darüber ausgelassen, dass man nur von schlechten Menschen umgeben ist. Die einen werden beneidet „Der Mann, der die Tickets verkauft, kassiert pro Kopf drei Millionen und wir können nicht profitieren…“, die anderen bedauert; „die wissen es ja nicht besser, weil die ungebildet sind“, aber negativ dargestellt werden sie alle, man grenzt sich ausdrücklich von ihnen ab, nur darüber kann man die eigene „bessere“ Lebensqualität darstellen. Grundsätzlich fällt es allen Befragten schwer, persönliche Vorstellungen und eigene Bewertungen direkt auszudrücken, es geht eigentlich immer über den Umweg, erst einmal über die Darstellung der anderen zu beschreiben, wie man nicht ist. Dabei fällt auf, dass diejenigen, denen es wirtschaftlich besser geht, mit Verachtung auf die anderen „Dörfler“ schauen „Ich kann hier nirgendwo richtig hin… die hier im Dorf, die kennen das nicht“ während die, die sich kaum etwas leisten können, mit schelen Blicken den Erfolg der anderen beobachten und die fehlende Gerechtigkeit anprangern, die daran Schuld sein muss (Vgl. Absatz „Die anderen sind Schuld“) Die eigene Person wird nicht als eigenständige, unabhängige Einheit gesehen, sie kann nur vor dem Hintergrund der anderen Kontur gewinnen, sozusagen als Kontrast dessen, was man nicht ist. Die Darstellung der anderen als negativ muss zwangsläufig die gute Seite der eigenen Person/Position enthüllen, Der Effekt ist der einer Abziehfolie, ist der schwarze Rand weg, bleibt der weiße Rest sichtbar stehen. Diese Identität, die aus dem Vergleich mit negativ dargestellten Referenzgruppen nur schattenhaft entsteht, nennen wir Negatividentität.

2. Unmündigkeit – „Die anderen sind Schuld“

In den meisten Ausführungen zur persönlichen Lage wird deutlich, dass ein traditionales Schicksals- bzw. Abhängigkeits– und Ergebenheitsdenken noch tief verankert ist. An aller misslichen Lage lässt sich schnell der Schuldige nennen: Der Nationalpark ist daran schuld, dass es dem Dorf insgesamt schlecht geht, Die Nationalparkbestimmungen werden von den meisten Befragten (Ausnahme: Frauen an der Brücke, die erhoffen sich von der externen administrativen Leitung des N.P. die Beendigung der Streitereien im Dorf) als Ursache allen Übels angegeben, die Bestimmungen werden nur negativ gesehen, die Gebote und Verbote sind die Ursache für alle Unannehmlichkeiten, man selber kann daran nichts ändern und hat auch nichts damit zu tun. Die Ahnen sind dafür verantwortlich, dass man in diesem abgelegenen Dorf festsitzt, sie waren so dumm, sich hier niederzulassen! Nun sitzt man in diesem Dorf fest und hat Pech gehabt, selbst handeln und den Fehler der Ahnen korrigieren beispielsweise durch Wegziehen ist keine denkbare Alternative. Und die fehlende Gerechtigkeit ist dafür verantwortlich, dass manche mehr kriegen als andere. Sie muss dafür herhalten, dass man selbst nicht verantwortlich ist für die persönliche Lage, es gibt eben keine Gerechtigkeit, also kann und braucht man auch nichts zu tun. Die Väter sind diejenigen, die verhindern, dass die Mädchen nicht zur Schule gehen können, „sie haben mich nicht geschickt“( ). Hier jedoch wird eine Veränderung sichtbar, ein Wandel zur neuen Perspektive, die Mädchen diskutieren bzw. streiten mit den Vätern, wie sie schildern, geben aber dann doch nach, wegen der „Harmonie, für die immer die Frauen zuständig sind, und um ihnen (den Vätern) nicht „das Herz zu brechen“( ). Doch gibt es auch schon kleinen Siege, zwei der damals interviewten Mädchen dürfen inzwischen in einen nah gelegenen Stadt arbeiten, wie wir bei unserem letzten Besuch im Dorf (März 2005) erfahren. Aber auch für alle sonstigen Belange im Leben lässt sich einer anderen Instanz die Verantwortung zuordnen, beispielsweise erhoffen sich ein paar Frauen von den abstrakten Nationalparkbestimmungen die Lösung für die Situation im Dorf, dass die Streitereien ein Ende haben und die Menschen zur Ruhe kommen. Sie erwarten die Lösung nicht von den Menschen selbst, ihrer Vernunft, dieser Schritt wird noch nicht gedacht. Unsichtbare Autoritäten lenken die Geschichte, man selber ist nur Spielball im Geschehen, nicht aktiv agierende Person. Die in ihren eigenen Augen Benachteiligten formulieren ihre Resignation, sie hoffen auf Rettung von außen, von einer Behörde oder Institution ohne irgendeine form von Eigeninitiative zu entwickeln.

3. Rettung vor dem Dorf

In allen Aussagen über das Leben im Dorf finden sich Hinweise auf die Vorstellung das Dorfleben sei rückständig und überholt. Jeder sollte versuchen, dieses Leben hinter sich zu lassen und sich „aus dem Dorf zu retten“ ist die allgemeine Meinung. Zur Rettung sind zwei Bedingungen unerlässlich, die eine ist eine gediegene Schulbildung „sie(die Kinder) müssen lernen, um sich zu retten“, die andere das Verlassen des Dorfes zugunsten des Lebens in der Stadt „Im Dorf hat man keine Zukunft “ oder beides in einem Zitat: „Wer lernt, kann sein Leben retten, und von hier verschwinden“. Im Dorf selbst sieht niemand eine Perspektive, die Landwirtschaft bietet kein Auskommen mehr, die Arbeit ist schwer und man gilt nichts in der Welt. Will man eine Zukunft haben, und das wissen alle, auch die Alten, dass dies eine neue Anforderung an jeden Menschen ist, die eigene Zukunft zu planen „Früher haben die Kleinen ihr Unwesen in den Bergen getrieben, heutzutage denkt schon das kleinste Kind darüber nach, was aus ihm werden soll“ Wer teilhaben will am besseren Leben muss das Dorf verlassen, alte Wege verlassen, die Traditionen hinter sich lassen, und in der Stadt zurechtkommen können. Die Stadt ist der Ort, wo man mit den Mitteln einer guten Schulbildung die Möglichkeiten zur Verbesserung der Lebenssituation nutzen kann. Die jungen Frauen würden alle auf der Stelle zugreifen, wenn sich die Gelegenheit bietet bzw. wenn die entscheidende Autorität zustimmt, sie belagern und bearbeiten die Väter in diesem Sinne. Die Elterngeneration ist hin und hergerissen zwischen dem Wissen um die Notwendigkeit der Bildung und Ausbildung und der Furcht vor den Gefahren, die aus den unkontrollierbaren Verhältnissen in weit entfernten Orten entstehen.

Handlungsmuster

Die Handlungsmuster entspringen bis auf das erste, „Abhauen“ genannt, weniger den Interviewinhalten, als unseren Beobachtungen, die wir unabhängig von den Befragungen im Dorf machen konnten. Das Thema Abhauen spielte bei fast allen Befragten eine Rolle, wurde von den Frauen immer wieder ausgeführt und hat in diesem Dorf eine besondere Tradition, war aber insgesamt das einzige wirklich thematisierte Handlungsmuster. Die anderen beiden Muster spielten sich vor unseren Augen ab und zeigen deutlich die verzwickte Lage der Bewohner. Einmal die Schwierigkeit, im Dorf selbst neue Wege zugehen, verbunden mit den Auswirkungen der traditionalen Verhaftung in einer kollektiven Mentalität – nachmachen – genannt und zum zweiten eigentlich eher das Gegenteil von Handlungsmuster, nämlich die Entscheidung, lieber nicht zu handeln, -Lieber Nichts tun- genannt, verbunden mit der oben beschriebenen Negativreferentialität – die teilweise alle Entwicklungsfähigkeit und Rationalität blockiert.

Diese drei Muster stellen wir im Folgenden dar.

1. Heiratsmuster: Abhauen und die Tradition umgehen
2. Teestube oder Ketten, alle machen dasselbe
3. Nichts tun – sonst profitiert ja der andere

1. Heiratsmuster „Abhauen“

Schon am ersten Morgen hatten wir in einer Interviewsituation gehört, dass ein Mädchen „abgehauen“ sei, dies war ständiges Gesprächsthema über den ganzen Tagesverlauf.

Das „Abhauen“ ist eine gängige Praxis im Ort, eine Heirat zu erzwingen, die auch dazu dient, die anfallenden Kosten für die Eltern niedrig zu halten, weil die Schwiegereltern auf diese Weise keine Forderungen stellen können. Der Nachteil besteht aber darin, dass sich in der Regel die beiden Familien darüber verfeinden. Das Mädchen und der junge Mann gehen zusammen – nach heimlicher Verabredung – an einen unbekannten Ort, und bleiben dort über Nacht. Nun kann nur noch die unvermeidliche Heirat die Schande tilgen und die Ehre der Familien, insbesondere der des Mädchens, wieder herstellen. Auf diese Weise umgehen die jungen Menschen die Praxis, einen von den Eltern ausgewählten und vorgeschlagenen Kandidaten, der häufig aus verwandtschaftlichen Verhältnissen stammt, oder aber auch ganz fremd ist, zu akzeptieren und zu ehelichen. Das „Abhauen“ ist die einzige Möglichkeit, mit einem selbst erwählten Partner die Ehe einzugehen. Es scheint aber auch die einzige Chance zu sein, aus dem restriktiven Überwachungsapparat des Elternhauses zu entkommen. Die Heirat selbst findet dann im kleinsten Kreis innerhalb der Familie des Mannes statt, da die junge Frau jetzt zum Haushalt der Schwiegermutter gehört, und ihre eigene Familie die Hochzeit nicht ausrichten kann, da beide Familien nun „verkracht“ sind, wie es unsere junge Informantin ausdrückt. Wie schon beschrieben, ändert sich der Status einer Person mit der Heirat. Es ist für die Jungen und Mädchen im Dorf erst einmal der einzige Weg, in den „Erwachsenenstatus“ zu wechseln, wahrgenommen zu werden als Person, die eine Stimme hat.

2. „Nachmachen“

Einige der Dorfbewohner haben den Wert der Touristen als Geldquelle entdeckt. Dabei zeigt sich ein Phänomen, dass wir „Nachmachen“ genannt haben. Es scheint so zu sein, dass eine Idee, die jemand hat, und die er anscheinend erfolgreich vermarktet, sofort von mehreren Personen kopiert wird und nun von dem halben Dorf praktiziert wird. Wenn sich ein Bus mit Touristen dem Dorf nähert, strömen die Frauen aus allen Richtungen herbei und bieten handgemachte Ketten und Armreifen an. Diese sind alle nach dem gleichen Muster gemacht, man findet keine unterschiedlichen individuellen Anfertigungen. Die Auswahl muss der Tourist danach treffen, welche Frau ihm sympathisch ist, oder ihm gerade am nächsten steht, oder vielleicht auch ihn am wenigsten bedrängelt, es ist seine persönliche Entscheidung, wem er etwas abkauft, nicht was er kauft, das ist nicht entscheidend, denn es ist alles gleich. Des weiteren sprießen in dem kleinen Dorf alle paar Schritte Teestuben aus dem Boden, ein Tisch, ein paar Stühle, fertig ist das Angebot. Einer fängt es an, sogleich gibt es viele Nachahmer. Die Kinder sind darauf spezialisiert, mit einigen Brocken erlernter deutscher Sprache die Touristen herumzuführen, sie laufen im Rudel mit und überbieten sich gegenseitig.

3. „Lieber Nichts tun“

Am Rande des Dorfes liegt auf einer idyllischen Wiese ein verrosteter LKW halb auf der Seite. Der Lehrer erzählt uns die Geschichte dazu. Der Weg zum Dorf herauf ist von vielen tiefen Schlaglöchern verunstaltet und macht das Chauffieren sehr mühsam und teilweise auch gefährlich. Dem Dorf wurde von der zuständigen Verwaltung ein LKW voll Füllmaterial für die Löcher zur Verfügung gestellt, das sollten die Dorfbewohner allerdings selbst in die Hand nehmen. Das wurde nichts, denn niemand war bereit, sich für diese Arbeit zur Verfügung zustellen. Also steht der LKW seitdem immer weiter zuwachsend auf der Wiese und wartet auf bessere Tage. Auf diese Tatsache angesprochen, äußerten sich die Befragten im folgenden Sinne: „Wenn ich das jetzt mache, die Straße zu verbessern, dann hat ja der, der jetzt nichts tut, auch etwas davon, obwohl er nichts macht, also tue ich es auch lieber nicht, so blöd bin ich nicht.“

Auch wenn bei einem kleinen Kind das Augenlicht durch eine Verletzung bedroht ist, wie in einem von uns beobachteten Fall, wird nichts unternommen, weil es sowieso so kommt, wie Allah es bestimmt hat, da braucht man nicht die Strapazen einer Reise hinunter in die Stadt zu unternehmen.

Fazit

Insgesamt ist keine einheitliche Dorfmentalität oder Identifizierung mit dem Dorf zu erkennen, es gab keine Aussage wie beispielsweise „Wir Selger sind so“ oder „hier in Selge machen wir das immer so“ oder „Mein bzw. unser Dorf…“ statt dessen reden sie über einander als „die da“ oder „manche“, sie grenzen sich voneinander ab und wir erfahren, dass sie sich sogar regelmäßig gegenseitig bei der Polizei anzeigen und wo sie können, behindern. Einigkeit herrscht nur im Widerstand gegen den Nationalpark, er wird besonders von den älteren Dorfbewohnern als Ursache allen Übels bezeichnet. Er dient durch seine Manifestation als gemeinsamer Feind zwar allen gleichermaßen, liefert den Grund für ihre missliche Situation, er ist verantwortlich für die niedrige Lebensqualität, stiftet aber keinen weiteren Zusammenhalt. Die Ablehnung der Nationalparkbestimmungen bleibt die einzige Gemeinsamkeit, es gibt keine Ansätze zu Zielen in der Gestaltung der gemeinsamen Lebensbedingungen wie Reparatur der Straße, gemeinsame Forderungen nach einer Wasserleitung oder was auch immer.

Durch die verstärkte Verbindung mit der Außenwelt bzw. durch die Veränderungen, den Wandel in der Welt sind für die Dorfbewohner bisherige Lebensweise und Orientierungsrahmen in Frage gestellt worden. Insgesamt verändert sich der Maßstab, welcher darüber entscheidet, was richtig und was falsch ist, an dem Handlungen, Lebensbedingungen und Menschen überhaupt gemessen werden. Dieser Maßstab, der sich aus dem Vergleich der eigenen Lebensbedingungen mit der der Außenwelt ergibt, wird durch die gewaltige Erweiterung der Außenwelt durch die Veränderung der äußerlichen Bedingungen stark verschoben und in Frage gestellt Das hat Auswirkungen auf den Ebenen der Wahrnehmung und damit verbunden der Wünsche und Bedürfnisse. Haben sie früher in den Tag hineingelebt, die anfallenden Tätigkeiten verrichtet ohne dabei ihre Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit zu hinterfragen oder sich über Optimierung und Veränderung der Abläufe Gedanken zu machen, so empfinden sie heute dieses Leben als unzureichend, nicht mehr den Anforderungen angemessen, so formulieren sie es Unser Alltagsleben verläuft meist sinnlos, wir sitzen leer“. Die Dorfbewohner sind gezwungen, von außen kommende Veränderungszumutungen zu akzeptieren ohne selbst Gestaltungsprinzipien erlernt zu haben, bzw. gelernt zu haben, selbst aktiv zu gestalten oder beispielsweise kritisch zu hinterfragen, d.h. sie haben noch keine Gestaltungsspielräume. Das Wissen der eigenen Unvollkommenheit (Ich bin ungebildet) ersetzt die Selbstgewissheit. Die Großelterngeneration, die kaum über Schulbildung verfügt, aber auch die Elterngeneration bezeichnen sich selbst als ungebildet. Sie empfinden das heute als Makel, was früher, als Kinder für sie noch selbstverständlich war. Sie machen daran ihre Lebensumstände, die sie als armselig empfinden fest. Heute, wo sie wissen, dass „man etwas wissen muss“, können sie nicht mehr mitreden, sie können es nicht nachholen und haben keine Hoffnung auf Veränderung. Diese Veränderung müsste von außen kommen, so denken sie, jemand müsste die Rettung vor diesem „öden ärmlichen Dasein“ bringen, so ihre Gedanken. Die Ahnen sind schuld, die sich hier niedergelassen haben“, sie hätten es besser machen müssen, dann müssten die Nachkommen heute nicht an diesem öden Ort ausharren, so der Tenor. Gleichzeitig wissen sie aber auch, dass es doch irgendwie gehen muss, es muss mit der Schule zusammenhängen, ist ihre Meinung, also wälzen sie die ganze Verantwortung auf die Kinder ab, durch einen ungeheuer hohen Druck, etwas zu leisten in der Schule, sie sollen die Rettung bringen, die sollen in der neuen Welt Fuß fassen und sie selbst ein Stück mitnehmen. Die junge Generation, die zum Teil schon mehr als die obligatorische Schulpflicht absolviert hat, ist im Sinne der älteren Generationen nicht mehr ungebildet, aber diejenigen, die noch im Dorf leben, sind noch kaum einen Schritt weiter als ihre Vorgänger. Sie wissen ebenfalls, dass sie so einfach nicht herauskönnen aus der Situation. Sie machen nicht die fehlende Bildung dafür verantwortlich, sondern die alte, traditionelle Lebensweise, die sie nicht in die Freiheit lässt. Was den Eltern und Vorgenerationen noch als unersetzbare bzw. nicht hinterfragbare Ordnung erschien, empfinden sie als sinnlosen Zwang, dem sie entkommen wollen/müssen. Speziell die Mädchen und jungen Frauen klagen „Sie haben mich nicht geschickt, sie lassen mich nicht, sie brechen mir das Herz“ usw. Sie wissen, dass es bei anderen anders ist, dass dort –nämlich in der Stadt – Mädchen in Boutiquen arbeiten können, als Friseurin oder mit der entsprechenden Schulbildung sogar als Lehrerin, ein Traum für die Mädchen vom Dorf. Sie wissen, dass man sogar eine eigene Wohnung haben kann, wenn man erst einmal den Verhältnissen des Dorfes entkommt, und in Deutschland kann man sogar den Mann, den man will, erst einmal kennen lernen, als Freund haben, ohne gleich zur Ehe gezwungen zu sein, das wissen sie alles. Daher empfinden sie ihr eigenes Leben als leer, unausgefüllt, ohne Sinn. Weder die häuslichen Pflichten noch Aussicht auf eine Ehe erscheint ihnen sinnvoll, die Leere entsteht aus dem Bewusstsein, festgehalten zu werden nicht so zu leben, wie es die neue Welt verheißt. Auch ihnen kommt es (noch) nicht in den Sinn, eigenständig zu handeln, sich selbst zu befreien, sie sitzen und hoffen, aber resignieren. Das Nicht-Wissen bringen sie nicht in Zusammenhang mit Nicht-Handeln. Sich entschließen können selbst etwas zu tun, kommt ihnen nicht in den Sinn. Die Verhältnisse sind eben gegen sie, daran ist nichts zu ändern. Das Wissen von der Veränderung der Welt führt nicht automatisch zu dem Wissen, wie man unter den neuen Bedingungen zu handeln hat, das kulturelle Muster, das selbstverständlicher Bezugsrahmen gewesen ist, reicht für die neue Lebensorganisation nicht mehr aus Hilflosigkeit ist häufig die Reaktion auf die sich verändernden Bedingungen. Sie führt zu Depression und Resignation sowie Fatalismus, Neid und Misstrauen. Das Gefühl, nichts wert zu sein in dem neuen Maßstab, schränkt die Handlungsfähigkeit ein, lässt Hoffnungslosigkeit aufkommen, der nichts entgegengesetzt werden kann.

Die sich verändernden äußeren Bedingungen verändern die Wahrnehmung der Dorfbewohner, bringen neue Bedürfnisse hervor, verändern auch die Gefühle und die Vorstellungen, wie man leben möchte.

Die Bedürfnisse: Die Wahrnehmung anderer Lebensweisen schafft bei den Dorfbewohnern neue Bedürfnisse,

• nach mehr Bequemlichkeit, mehr Komfort durch Wohnraum, Wasserversorgung, den Bau/ Anbau von Sanitärräumen, Küchen im Haus, nach technischen Errungenschaften wie Fernseher, Waschmaschine, Mehrere Frauen sprechen die Bedeutung von Sauberkeit und Hygiene an, die bei dieser Lebensweise nicht gewährleistet werden kann. Ein ganz großes Bedürfnis besteht nach fließendem Wasser, das von allen Bewohnern einschließlich der Schule, die ebenfalls ganz ohne Wasserversorgung dasteht, in Kanistern, Eimern und Kannen von den Zapfstellen im Dorf geholt werden muss. Das ist sehr umständlich und mühevoll, man muss immer sehr rationell mit dem wertvollen Wasser umgehen, das geht auf Kosten der Hygiene meinen sie. Die Dorfbewohner fühlen sich im Stich gelassen und von den Behörden hingehalten, zumal als Kontrast ein modernes luxuriöses Toilettenhaus am Dorfeingang steht, das verschlossen ist, es scheint also eine Wasserversorgung möglich zu sein.
• Handis als Statussymbol oder Fähigkeiten wie Autofahren, Gitarre spielen, usw.
• mehr persönlicher Freiheit, in Form von freier Partnerwahl beispielsweise, einer Wohnmöglichkeit abseits der Herkunftsfamilien, der Freiheit sich nach persönlichem Geschmack zu kleiden, zu schminken sich eben individuell verhalten zu können, sein Leben nach eigenen Vorstellungen realisieren zu können.
• der Möglichkeit der Berufsausbildung oder mindestens Arbeit(Mädchen speziell) der Möglichkeit von Bildung und Ausbildung als Grundlage für eine adäquate erwünschte Lebensführung, mehr Spielraum durch Geld verdienen.

Die Gefühle: Die Kontrastierung zwischen den Lebensbedingungen im Dorf und der ständig eindringenden Außenwelt erzeugt und verändert Gefühle:

Scham und Peinlichkeit werden häufig genannt in den Interviews. Selbstverständlichkeiten werden zu Peinlichkeiten, wie das Schlafen in einem Raum,. die Toilette im Hinterhof, die fehlenden Schulutensilien usw. „Früher waren es die Menschen zufrieden, alle in einem Raum zu schlafen“, erläutert eine Frau, „heute geht das nicht mehr, sie schämen sich“ Manchmal richtete sich die Scham gegen mehrere Seiten gleichzeitig, war eine doppelte Falle – man schämte sich gegenüber dem Lehrer, weil man nicht alles in Ordnung hatte, und konnte es aber auch zu Hause nicht anbringen, schämte sich vor den Eltern, bzw. wusste, dass man diese fürchterlich beschämen würde, wenn man diese Scham thematisieren würde “…es war nie perfekt, und wir schämten uns vor dem Lehrer, aber unseren Eltern konnten wir das auch nicht sagen, sie hatten ja auch nicht die Mittel,…“.

Neid entstand an der Stelle, wo sich Verbesserungen in der Lebensqualität für einzelne Familien ergaben.

Schlussbemerkung

In diesem weit von der Welt abgeschiedenen Dorf läuft das Leben noch langsam, wie es der Lehrer ausdrückt, „Die Uhren gehen langsam hier“. Nichtsdestotrotz findet die Begegnung mit der modernen Welt statt und verändert das gesamte Leben. Die traditionelle Alltagsgestaltung wird nicht mehr als ausreichend empfunden sondern als rückständig und nicht mehr passend. Erste Schritte auf dem Weg in die moderne Zeit führen über den Vergleich mit anderen, der Erkenntnis, diese sind anders als „ich“, und damit zu ersten unbewussten Individualisierungstendenzen. Die Möglichkeit Selbstbewusstsein und Identität zu entwickeln, entsteht mit der Herauslösung der einzelnen Person aus der traditionellen kollektiven Identität und der damit verbundenen Herstellung eigener, individueller Identität. Dieser Weg ist angedeutet und auf unterschiedliche Weise ausgeprägt sichtbar. Auch die modernen technischen Errungenschaften leisten ihren Beitrag und am deutlichsten formuliert es unsere Gastgeberin im Teegarten, als wir darüber sprechen, dass die Mädchen keine Chancen haben, ihre angehenden Partner kennen zu lernen: „Heute umgehen sie die Kontrolle, sie haben Handys, schreiben SMS und tauschen alles Mögliche an Gefühlen aus…“bemerkt sie trocken in die Diskussion hinein.

Netphen 2010

www.institut-johnson.de

Ursula und Helmut Johnson
Tradition und Moderne in einem türkischen Dorf


Ein Forschungsbericht

Das erste Projekt – sozusagen unser Pilotprojekt, nach der Gründung des Vereins ISAF – „Interkulturelle soziale Arbeit und Forschung“ war eine kleine Untersuchung in der Türkei in einem abgelegenen Bergdorf in der Umgebung von Antalya. Ausgewählt wurde dieser spezielle Ort durch die Tatsache, dass bereits ein Kontakt bestand, der die Basis für die Forschungsarbeit sein konnte. Unser Forschungsteam bestehend aus fünf Personen, setzte sich zusammen aus den beiden Praktikanten – eine Studentin der Sozialpädagogik und ein Student der Soziologie, einem Sozialarbeiter einem Diplom Psychologen und einer Soziologin M.A.. Als Methode wendeten wir eine systemisch orientierte Interviewtechnik an, ausgeführt von instruierten Interviewern mit guten türkischen(muttersprachlich) und deutschen Sprachkenntnissen, ausgewertet mit qualitativen Methoden der Sozialwissenschaften. Für uns stand die Frage nach den aktuellen Lebensbedingungen im Vordergrund, welche Lebensbedingungen bringen welche Deutungsmuster und welche Handlungsweisen hervor, oder wieweit lassen sich Modernisierungstendenzen bzw. Individualisierungstendenzen feststellen. Wie gehen die Menschen mit der Übergangssituation um, arrangieren sich mit neuen Bedingungen, lösen Verbindlichkeiten auf oder halten alte Sicherheiten fest? Ausgehend von der Überlegung, dass sich den fortschreitenden Entwicklungen in der Welt niemand entziehen kann, dass sie sich in dem Sinne verselbständigt haben, dass sie sich ausdehnen und auch die letzten Winkel der Erde erfassen werden, gilt den dadurch entstehenden Veränderungen im Denken und Handeln unser besonderes Interesse.

Wir stellen die Ergebnisse unserer Untersuchungen unter verschiedenen Gesichtspunkten dar: Zu Beginn stellen wir kurz die örtlichen Verhältnisse und die aktuelle Situation dort vor. Anschließend erfolgt die systematische Darstellung der zentralen Erkenntnisse. Es zeichnen sich Differenzierungslinien ab, die sich aus der jeweiligen Lebenslage ergeben, Sie bilden einen Strang, den wir an erster Stelle darstellen werden, wobei auch schon einige wichtige Praktiken und Orientierungsmuster deutlich werden. Des Weiteren kristallisieren sich drei Hauptdeutungsmuster heraus, die wir anschließend darstellen wollen und ebenso drei besondere bzw. spezielle Handlungsmuster/Praktiken, die daran anschließend kurz geschildert werden. Im Fazit diskutieren wir unsere Einschätzungen und Schlussfolgerungen, wobei wir unser Augenmerk auf die Wandlungsprozesse und Veränderungen im Allgemeinen und im
Besonderen sowie deren Voraussetzungen und Folgen auf psychologischer Ebene richten. Zur besonderen Illustration mancher Zusammenhänge werden wir hin und wieder Originalzitate einfügen, diese kennzeichnen wir durch Kursivschrift und Anführungsstriche

Lage und Besonderheiten

Selge ist ein kleines Bergdorf, tief bzw. hoch im Taurusgebirge gelegen. Seine Besonderheit liegt nicht nur in der äußerst abgeschiedenen Lage sondern auch in der direkten Nachbarschaft einer alten römischen Siedlung, in deren Ruinen das Dorf geradezu eingebettet liegt. Diesen Ruinen galt schon seit fast hundert Jahren das Interesse von wissenschaftlichen Forschungen Es existiert z.B. eine Veröffentlichung von österreichischen Architekturwissenschaftlern „Bauforschung in Selge“ von Alois Machatschek und Mario Schwarz, Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften 1981, die viele interessante Daten zur römischen Anlage liefert. Im letzten Abschnitt dieses Buches zu der Thematik römische Bauwerke findet sich ein kurzer Abschnitt „Das Dorf und seine Bewohner“, in dem dargestellt ist, wie sich das Dorf mit den römischen Hinterlassenschaften verbunden hat, die Häuser stehen teilweise mitten in den Trümmern, haben Teile aus dem ehemaligen Theater in ihre Bauten integriert als Türoder Fensterrahmen beispielsweise, ohne dass die Dorfbewohner irgendeinen Bezug zu diesen Ruinen erkennen lassen. Ebenso weist diese Studie hin auf die vielfältige Unterschiedlichkeit in dem Aussehen der Bewohner, sie bilden ein buntes Gemisch in Bezug auf Haarfarben, Augenfarben wie man es in so einem engen Lebensraum nicht erwartet. Man trifft rothaarige und blonde Menschen ebenso wie schwarzhaarige mit blauen oder grünen Augen, besonders eindrucksvoll erkenntlich bei den Kindern. In Bezug auf die Kleidung hat sich aber einiges geändert seit dem Erscheinen der Bauforscher, sie berichten noch, dass die Bewohner im „landestypischen Schwarz“ gekleidet seien und häufig die „rote Kappe“ – von den Männern – getragen würde, so sieht es heute nicht mehr aus. Die Kleidung ist eher bunt, besonders bei den Frauen, nur die alten Männer tragen eine meist schwarze Kappe, die Frauen bunte Pumphosen oder hin und wieder – als junge Mädchen meistens – auch Jeans, meist aber mit traditionellem Kopftuch.

Der Nationalpark ist daher eine der Bedingungen, die das Leben in dem Bergdorf prägen. Er ist die Folge der Tatsache, dass sich das Dorf in direkter Nachbarschaft von der antiken aus der Römerzeit stammenden Anlage angesiedelt hat, teilweise direkt auf den Überresten und unter häufiger Verwendung vorgefundenen Baumaterials, so dass das gesamte Dorf und seine Umgebung zu einer historischen Kulturstätte erklärt wurde. Durch die offizielle Führung als Nationalpark unterliegt das Dorf und seine Umgebung auch den strengen Nationalparkbestimmungen Die Bewohner dürfen nach den Bestimmungen nichts mehr verändern, nicht um- an- oder neu bauen, sie müssen die Gebäude so lassen, wie sie seit ihrer Erbauung waren, sie dürfen kein Holz schlagen in der nahen Umgebung, sollen stattdessen das Holz jetzt kaufen, was an Ironie grenzt, sollen alles beim alten Status belassen. Dies führt zu Verärgerung und Klagen, denn es fehlt an fließendem Wasser, Wohnraum, modernem Wohnkomfort usw. Kontrast: Alle Dorfhäuser bis auf eins einschließlich die Schule müssen ohne fließendes Wasser auskommen, also auch ohne entsprechende Sanitäranlagen, sie holen Wasser aus Zapfstellen im Dorf Aber: Es gibt eine nagelneue luxuriöse Toilettenanlage zum späteren Gebrauch für Nationalparkbesucher am Dorfeingang. Sie ist jedoch abgeschlossen, weil noch nicht eingeweiht durch einen Minister!!!

Gleichzeitig war aber dieses Dorf schon seit ungefähr 100 Jahren ein Anziehungspunkt für Forscher und Touristen, die besonders seit die Straße existiert, regelmäßig zu Besuch kamen um die Ruinen zu besichtigen bzw. zu erforschen, und so das weit abgelegene Dorf in Kontakt mit der modernen Welt brachten.

Die Menschen im Dorf leben unter einfachsten Bedingungen. Das Leben spielt sich hauptsächlich im Freien ab, die Kochstellen liegen draußen, es gibt keine Wasserleitung, der Wohnraum ist äußerst begrenzt. Elektrizität ist inzwischen angekommen im Dorf (seit ca. 1990), sie gibt die Möglichkeit, sich an das Gesamtnetz anzuschließen, aber sie kann nur partiell genutzt werden, je nach finanzieller Lage der Einzelnen, auch fällt die Elektrizität häufig aus, im letzten Winter für mehrere Monate.

Mit der Elektrizität kamen die modernen Kommunikationsmedien in manche Häuser, Telefon und Fernsehen, die das Dorf forthin mit der Außenwelt verknüpfen. Der Tagesablauf der immer im Dorf lebenden Personen wird bestimmt durch die äußerlichen Bedingungen: Wasser holen an den Brunnen, Holz sammeln zum Kochen, Ziegen hüten, und Nahrungszubereitung. Die Zeit verstreicht langsam im Dorf, die meisten notwendigen Tätigkeiten sind schnell erledigt, dann beginnt das Warten. Die Tagesstruktur ist immer gleich, Abwechslung bringen nur hin und wieder Besucher, meist Touristen, die die Ruinen besuchen wollen.

Aktuelle Situation

Bei der Ankunft in Selge spürten wir sofort, dass die Situation auf eine bestimmte Weise deutlich angespannt war. Kinder bewarfen unsere Autos mit Stöcken und die Bewohner empfingen uns reserviert und abwartend. Wir erfuhren dann von unserem Kontaktmann, dem Lehrer, dass die Bewohner auf Autos mit Nummernschildern aus Ankara nicht gut zu sprechen waren, weil sie diese mit Regierung und Beamten aus der Nationalparkleitung identifizierten. Wir hatten auf unseren Wagen ebenfalls Nummernschilder aus Ankara, weil es Leihwagen waren. Nachdem dieses Missverständnis aufgeklärt werden konnte, und wir erklärt hatten, dass wir nichts mit den entsprechenden Behörden zu tun hatten, besserte sich die Stimmung und am zweiten Tag wurden wir schon als zugehörig eingestuft, was sich darin ausdrückte dass sie sagten „Da kommen unsere“, wenn wir die Straße entlang gefahren kamen.

Die Interviewsituation gestaltete sich nach der anfänglichen mühsamen Aufwärmphase dann als ergiebig und harmonisch. Viele Bewohner nahmen sich die Zeit und gaben uns bereitwillig Auskunft, so dass wir keine Probleme hatten, das entsprechende Material zu erhalten.

Eine Einschränkung ist allgemein noch zu machen, es gibt auch noch einige Dorfbewohner, die uns sehr misstrauisch betrachteten, sie lehnten jeglichen Kontakt ab, drehten sich fort,
wenn wir uns näherten und wurden sogar sehr böse, wenn sie sahen, dass wir etwas fotografieren wollten. Insofern beziehen sich unsere Ergebnisse nur auf die Menschen, die uns gegenüber offen und aufgeschlossen eingestellt waren und bereit, die Technik des Aufnehmens
und Fotografierens zu dulden.

Systematik – Darstellung der Ergebnisse

Die Dorfbewohner beschreiben alle ihre nicht beneidenswerte Situation: kein Wasser, kein Arzt, keine Medikamente (aber neuerdings gibt es Süßigkeiten, Kaugummi und Chips im Cafe-Laden, den besonders die Schulkinder, aber auch die jungen Leute regelmäßig besuchen, um ihre Umsätze einzutauschen gegen diese Genüsse), keine Arbeit, keine Erlaubnis zur Sanierung ihrer Häuser um die Lebenslage zu verbessern (Nationalparkbestimmungen), kein Geld, um wegzugehen. Die meisten heben aber auch die gute Luft und das angenehme Klima als Vorteil hervor.

Differenzierungslinien:

Differenzierungslinien zeigen sich in mehreren Lebensbereichen, sie beinhalten die Erfahrungen, die für die Lebensgestaltung eine große Bedeutung haben, ob man männlich oder weiblich ist, die Generationszugehörigkeit, der Status bzw. der Zugang zu Erwerbsmöglichkeiten oder Bildungsinstitutionen. Hier zeigen sich die Voraussetzungen, die bestimmend auf die Handlungsfähigkeit von Personen einwirken.

Die Generationenzugehörigkeit ist eine der am deutlichsten hervortretenden Unterscheidungskriterien, daher werden in diesem Abschnitt die Generationen getrennt nach GroßelternEltern und Jugend bzw. Kindergeneration beschrieben, wobei aber als zusätzlich differenzierende Größe noch die des Geschlechts eine wichtige Rolle spielt, so dass auch teilweise getrennt darauf eingegangen wird. Zusätzlich sozusagen quer dazu verläuft noch eine weitere Differenzierungslinie, die der ökonomischen Basis einer Familie. Dies betrifft die Erwerbsmöglichkeiten bzw. die Fähigkeiten, sich auf dem Arbeitsmarkt zu etablieren oder weiterhin auf traditionelle Art den Lebensunterhalt zu sichern. Diese Art der Lebensweise bestimmt eklatant den Status und Lebensstandard der Personen.

Die Großelterngeneration ist häufig gekennzeichnet durch ihr Verhältnis zu dem Dorf als von den Vorfahren ererbten Stammsitz. Sie weisen gerne auf die Ahnen hin, die sich an dieser Stelle angesiedelt haben, so dass für sie selbst kein anderer Wohnort in Frage kommt. „Unsere Ahnen haben sich zwar hier niedergelassen, aber sie haben einen riesigen Fehler begangen“. Diese Generation zeigt weniger Unterschiede in der Kategorie Geschlecht, sondern es gibt eine große Trennungslinie zwischen denen, die es nie geschafft haben, sich auf dem Arbeitsmarkt einen Lebenserwerb zu sichern und denen, die auf diesem Gebiet erfolgreich waren. Ein Teil der von uns befragten Personen weilte gerade zur Kastanienernte im Dorf, lebte aber ansonsten außerhalb in einer kleinen Stadt wegen Arbeit und besseren Lebensbedingungen. Diese kamen regelmäßig zu Besuch ins Dorf zurück, rühmten die gute, gesunde Luft, kehrten aber jeweils wieder in ihr „normales“ Leben in der Stadt zurück, worauf besonders die Frauen sehr großen Wert legten – wegen der Annehmlichkeiten und des komfortableren Lebens hauptsächlich. Eigentlich wünschten immer die Männer den Besuch im Dorf, wollten die Verbindung nicht kappen „Na ja, unsere Vorfahren stammen von hier, wir sind hier geboren, …man soll nicht vergessen, wo man herkommt, “ aber schon ihre Nachkommen kamen nicht mehr mit, zeigten kein Interesse mehr am Dorf, zu primitiv, zu unbequem. Die anderen, interessanterweise hauptsächlich alleinstehende alte Männer, leben resigniert dem Ende entgegen, erwarteten nichts mehr vom Leben, „Meine Arbeit ist es zu liegen“„Unsere Zeit ist abgelaufen, Wir haben wenig Hoffnung, dass sich hier noch etwas ändern wird“, „Ich hab keine Zukunft, ich lebe so vor mich hin und hoffe, das nicht alles noch schlimmer wird.“ Befragt dazu, wie es früher war, zeigen sie alle wenig Bereitschaft, viel zu erzählen, sie berichten einstimmig darüber, vor sich hin gelebt zu haben, ohne sich Gedanken über das Jetzt oder gar die Zukunft zu machen. „Wir haben in den Tag hinein gelebt“ Sie sagen über ihren Ort: „Hier gibt’s doch nichts, nur Steine und die gute Luft“

Die Vorfahren werden nicht als eigenständige Personen betrachtet, die etwas weiter gegeben haben, die eine beschreibbare eigenständige Person waren, sondern als Ahnen im kollektiven traditionellen Sinn. Sie wirken nicht als Ressource, die einen Überlebensplan vermitteln, sondern als Kette, die einen festhält an der Stelle, an der man ist, sie lassen keinen Spielraum zu, und auch keine persönliche Beziehung, sie dienen der Rückwärtsorientierung, die jede Innovation verhindert. Der Blick ist nach rückwärts gerichtet, die Gestaltung der Zukunft nicht möglich, man wird festgehalten, kann nicht planen, nicht selbstbestimmt gestalten, die Zukunft erscheint als vorprogrammiert bzw. nicht mehr vorhanden.

Interessanter Gesichtspunkt: Manche der männlichen Dorfbewohner nennen sich Yörek – d.h. wörtlich übersetzt Nomaden, und das bedeutet, sie sind in der Vergangenheit gewandert, waren nicht dauerhaft sesshaft. Heute dagegen sehen sie sich nicht mehr in der Lage, ihren Wohnort zu verlassen, sind verurteilt zum Bleiben. Das Dorf nicht verlassen zu können, weil sie woanders nicht leben können, sind sie nicht mehr fähig zu sozialer und räumlicher Mobilität, wie es die ursprüngliche Lebensweise der Nomaden noch verlangt hat. Insofern hat sich ihre Lebensweise ins Gegenteil verkehrt, sie übermitteln dem Wort für Nichtsesshaftigkeit einen anderen Sinn, den von Einheimisch sein, was ihnen aber nicht bewusst zu sein scheint.

Die Elterngeneration
Die Personen dieser Generation lassen sich unter zwei Aspekten betrachten: Der erste Aspekt betrifft ihre Erwerbssituation: Sie unterscheiden sich dadurch, wie und wovon sie leben. Der eine Teil hat es geschafft, für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten, auf moderne Art Leistung gegen Geld tauschen – dazu müssen sie(Männer) das Dorf verlassen und in der Stadt erfolgreich einer bezahlten Arbeit nachgehen – oft bleiben die Frauen mit den Kindern im Dorf zurück und leben ein einsames Familienleben mit nur selten anwesendem Vater. Der andere Teil der Dorfbewohner versucht das Überleben auf traditionelle Art zu sichern, was mühsam und meistens nicht gerade einträglich ist. Es bedeutet auch, nicht aus dem Dorf herauskommen und nur äußerst bescheidene Lebensbedingungen zur Verfügung zu haben. Der zweite Aspekt betrifft die Einstellung zum Leben und zur Zukunft.

Die eine Gruppe, die in unserem Sinne berufstätig ist, bewertet Leistung und Arbeit durchaus positiv, „Ich sage immer, wer arbeitet, der bleibt auch nicht hungrig“ „Du kriegst für deine Leistungen etwas zurück, das hast du hier (im Dorf) nicht“. Diese Gruppe schaut nach vorn, passt sich scheinbar mühelos an neue Anforderungen an, denkt in neuen Bahnen. Für die Zukunft formulieren sie Ziele und Pläne, Verbesserungen und Erleichterungen wie eine Waschmaschine oder getrennte Wohnräume, eine gute Schulbildung für die Kinder ist auch ein vorherrschendes Ziel. Insgesamt betrachten sie ihr Leben als erfolgreich, wenn auch teilweise bei den im Dorf zurückbleibenden Frauen großes Bedauern herrscht über die oft lange Abwesenheit der Männer, einige am liebsten mit das Dorf verlassen würden, um bei den Männern in der Stadt zu leben, ja sie sich grundsätzlich aus dem Dorf herauswünschen, weil sie meinen, nicht mehr dazuzupassen, nicht mehr hergehören…Zit. Die andere Gruppe hat es zum Teil versucht, außerhalb zu arbeiten, konnte aber nicht Fuß fassen im Arbeitsleben, bewertet aber das Leben im Dorf auch negativ, so dass sie wirklich ohne jede Perspektive sitzen und abwarten und ihre ganze Hoffnungslosigkeit formulieren als sinnloses Dasein „Unser Alltagsleben verbringen wir mit trostlosem Nachdenken…Ich sehe die Zukunft sehr schwarz“ Das Leben in der Stadt können sie nicht ertragen, z.B. die Arbeit in der Tourismusbranche, das Leben auf dem Land bzw. im Dorf auch nicht. Sie beneiden die anderen um ihre Möglichkeiten, beobachten sie den ganzen Tag und kommentieren jedes kleine Vorkommnis, klagen und lamentieren über Ungerechtigkeiten, können aber selbst nichts an ihrer Lage ändern. All ihre Hoffnungen lasten auf den Kindern, die sollen es besser haben, müssen es aber auch besser machen, d.h. sie werden angetrieben von den Erwartungen der Eltern. Durch diese hohe Erwartungshaltung und Disziplinierung gegenüber den Kindern verlieren die Eltern aber auch für sich selbst die Möglichkeit der Erfahrung, Gefühle zuzulassen und als Ressource zu nutzen. Sie müssen ihre Gefühle ebenso kontrollieren und disziplinieren, wie die Kinder, so dass auch sie selbst unter einem ständigen Druck stehen, den sie nicht lockern können. Sie betrachten die Kinder nicht als Fortsetzung ihrer eigenen Geschichte, an der sie beteiligt sind, der sie etwas weiter zu geben haben: „Unsere Kinder sind fern von uns… wir sind fern von ihnen“ ist nicht nur räumlich zu verstehen, spiegelt gesamte Erfahrung und Vorstellung wider.

Die Elterngeneration formuliert fast durchgehend ihre mangelnde Schulbildung als Grund für ihre jetzige Lage. Sie haben in der Regel nur vier Jahre Grundschulzeit absolviert und bezeichnen sich als „Ungebildet“. Darauf sind auch die häufigen Streitereien in der Familie zurückzuführen, wird interpretiert, sonst wüssten sie es ja besser und würden z.B. „nicht schlagen“. Mit mehr Bildung als Schul- oder Ausbildung müssten die Menschen auch in der Lage sein, ihre Beziehungen zu regeln, durch Kommunikation und friedlich. Für sie selbst gilt „das Ungebildetsein“ aber möglicherweise auch als Entschuldigung, für das Nichtvermögen, eigene Beziehungen bereits gewaltfrei zu führen, wie an dem Verhältnis zu den Kindern deutlich wird.

Die Jugendgeneration – hier standen uns nur weibliche Vertreter – Mädchen zur Informationsgewinnung zur Verfügung, junge unverheiratete Männer haben wir nicht befragt, sie waren zum großen Teil auswärts in Arbeitsangelegenheiten unterwegs bzw. die Vertreter, die scheinbar im Dorf anwesend waren, wir trafen sie in einem „Teegarten“ an wo sie bis dahin wohl zwanglos zusammen saßen, sie verschwanden jedoch sofort um die nächste Ecke, als wir den Garten betraten. Zwar tauchte immer wieder der eine oder andere in besagtem Garten auf, vordergründig um „Besucherzucker“ – (gemeint ist Würfelzucker U.J.) – zu erstehen, wie unsere Informantin erklärte, sicher aber auch, um die Situation zu beäugen möglicherweise in ihrer männlichen Funktion auch zu kontrollieren, ohne aber Kontakt zu irgend jemandem aufzunehmen.

Während ein Teil der männlichen Jugendlichen scheinbar schon auf dem Weg ist, sich den neuen Anforderungen zu stellen, sie gehen häufig in die weiterführenden Schulen, leben dazu bei Verwandten in der Stadt, oder gehen schon Erwerbstätigkeiten außerhalb des Dorfes nach, bleiben doch auch junge Männer im Dorf, es ließ sich nicht feststellen, aus welchen Gründen und welcher Tätigkeit sie möglicherweise nachgingen, sie waren unsichtbar für uns, ließen kein Kontakt- bzw. Kommunikationsbedürfnis erkennen. Ob es ihr geringer Status als unverheirateter Mann nicht zulässt, mit uns zu sprechen oder ob es möglicherweise an persönlichen Unzulänglichkeitsgefühlen bzw. mangelndem Selbstbewusstsein, entstanden aus den repressiven Erziehungsmethoden, liegt, was unsere Vermutung wäre, lässt sich nicht eindeutig klären. Für die Mädchen liegt der Fall etwas anders, denn aufgrund der traditionellen Ehrevorschriften können sie nicht allein das Dorf verlassen, z.B. um eine Schule zu besuchen oder eine Ausbildung zu machen. Was für manche Stadtmädchen schon Selbstverständlichkeit sein kann, sieht hier im Dorf noch ganz anders aus. Die jungen Mädchen leben ein Leben zwischen Traum und Realität. Sie träumen von der Freiheit, von den Möglichkeiten, den strengen Bestimmungen und Vorgaben entkommen zu können. Sie kennen die Unterschiede, wie ihre Geschlechtsgenossinnen in der modernen Welt leben. Sie träumen an erster Stelle von der Möglichkeit, zu arbeiten, ihr eigenes Geld zu verdienen was bedeuten würde, Freiräume zu erhalten, die sie nach eigenen Vorstellungen nutzen könnten. Sie nennen alle an erster Stelle das Bedürfnis nach Arbeit, dabei schwanken die Vorstellungen zwischen den Bereichen Verkäuferin in einer Boutique bis hin zum Traum von der Lehrerin. Es geht immer um den Wunsch selbständig Geld zu verdienen, verbunden mit Vorstellungen von Auto fahren, eine eigene Wohnung haben, Anschaffungen machen zu können ohne Erlaubnis zu brauchen, und nicht zuletzt die Möglichkeit, Männer treffen zu können, sie kennen zu lernen, ehe man überhaupt an eine Verheiratung denkt. Demgegenüber steht ihre aktuelle Situation: Sie empfinden das Leben im Dorf als eng und unbefriedigend, „Wir sitzen leer“ Sie beklagen alle, dass sie „nicht geschickt werden“, zur weiterführenden Schule, zur Ausbildung usw. D.h. sie sehen sich festgehalten von den alten Mustern, die Eltern haben das Recht auf ihrer Seite, sie bestimmen den Freiraum. Die Mädchen geben alle an, mit den Vätern darüber zu diskutieren, denn die sind die letzte Instanz, aber letztendlich fügen sie sich in deren Entscheidungen, um „ihnen nicht das Herz zu brechen“. Sie träumen von der Freiheit, und kennen keinen Weg, um sie zu erlangen. Sie wissen, dass es anders geht, dass für andere Mädchen der Weg schon frei ist, sie beneiden diese Mädchen, aber sie können für sich selbst den Absprung nicht machen. Die meisten Aussagen machten die Mädchen zum Thema Heiraten und Partnerwahl, nämlich in der Regel dahingehend, dass sie sich wünschten, die möglichen Kandidaten für eine Eheschließung erst einmal kennen lernen zu können, ohne einen Bräutigam unbekannt verpasst zu bekommen. Weiterhin wollten sie sich nicht mehr nach traditioneller Maßgabe verheiraten lassen, sondern lehnten die bereits gemachten Vorschläge ab. Dafür fanden sie sogar sehr rationale Begründungen, wie gesunde Kinder haben zu wollen, – die vorgeschlagenen Ehepartner stammen oft aus der Verwandtschaft – selbst wenn sie dafür in Kauf nehmen müssen, unverheiratet, als spätes Mädchen sozusagen im Dorf bleiben zu müssen, im Haushalt der Eltern.

Die Kinder: Die Kinder werden geradezu überlastet mit Hoffnungen und Forderungen seitens der Eltern. Sichtbar wird ein hohes Maß an Leistungsdruck, der auf die Kinder ausgeübt wird, sie sollen um jeden Preis in der Schule Erfolg haben. Die Erwachsenen lassen den Kindern keinen Freiraum, fordern und kontrollieren deren Höchstleistungen, was in vielen Fällen zuStörungen wie Bettnässen, Ängstlichkeit aber z.B. auch Tierquälerei -von uns beobachtet an Katzen- führt. Bettnässen ist gerade bei den kleinen Jungen sehr verbreitet im Dorf, unverhältnismäßig häufig verglichen mit der geringen Bevölkerungsdichte, was die Mütter auch nicht verschämt verschweigen, sondern eher drastisch und emotionslos formulieren „…der mittlere pisst..“. Die Gefühle zu den Kindern können nicht zugelassen und gelebt werden, an erster Stelle steht die Disziplin, der Druck, durch ihre schulischen Erfolge die Zukunft der Eltern zu retten „Wir haben die Kinder mit sehr viel Disziplin erzogen. Ich habe ihnen nie Zuneigung gegeben“. An keiner Stelle ließen sich Belege für ein Recht auf Kindheit, wie es in unserer Gesellschaft zur Norm geworden ist finden.

Gender – Differenzierungslinie Geschlecht

Es spielt eine große Rolle, ob man männlich ist oder weiblich, in Selge.

Die Männer tragen einerseits die Last, für ihre gesamte Familie sorgen zu müssen, auch dafür, außerhalb Arbeit aufnehmen zu müssen, mit der Vorgabe weit entfernt von der Familie oft über lange Zeit allein in der Welt zurechtkommen zu müssen. Andererseits wehren gerade sie sich gegen jede Veränderung, betrachten sie als Gefahr, reagieren mit unverhältnismäßiger Strenge und Rigidität auf Anforderungen von den einzelnen Familienmitgliedern, speziell den weiblichen. Besonders wenn die Mutter fehlt, was in einigen der interviewten Familien der Fall war, zeichnen sie sich durch Ablehnung aller „gefährlichen“ Tätigkeiten aus, wie z.B. „in der Stadt etwas erledigen“.

Die Frauen dagegen zeigen einerseits mehr Bereitschaft, sich mit den neuen Möglichkeiten auseinander zu setzten, wollen auch einfach neue Wege erforschen, erste Schritte in anderen Bahnen versuchen, lassen sich aber andererseits nach wie vor durch die Autoritäten ausbremsen. Einige Frauen haben sich den stetigen Touristenstrom zunutze gemacht und bieten selbstgefertigte Artikel zum Kauf an, aber auch Führungen zu den Ruinen und haben zu dem Zweck schon eine beachtliche Kapazität an Fremdsprachenkenntnissen erworben, sie begrüßten uns deutsch und konnten einfache Gespräche führen. Dies bietet ihnen die Chance, aus dem Alltagstrott auszubrechen und sich ein kleines Maß an Eigenständigkeit zu schaffen, denn sie erhalten Bargeld, mit dem sie eigene Ziele verfolgen können. Manche Frauen ergreifen die Möglichkeit, sich der allgegenwärtigen Kontrolle zu entziehen, in dem sie ihre Sachen an der Brücke weit unterhalb des Dorfes anbieten, sie laufen zu Fuß dort hin und verbringen den ganzen Tag dort relativ frei, allerdings auch nur in Grenzen, denn in dem Moment, in dem wir dort zum Interview auftauchen, erscheint auch urplötzlich – ganz zufällig – ein männlicher Verwandter, der gerade so passend vorbeikam!

Die Geschlechter leben außerhalb der Familie streng getrennt, sie sollen in der Öffentlichkeit möglichst keinen Kontakt haben, das erfordert das strenge Konzept der Ehre. So ist es auch zu verstehen, dass die jungen Männer postwendend den Garten verlassen, als wir mit ein paar jungen Mädchen des Dorfes gemeinsam dort eintreffen. Die scheinbar zufälligen Einkäufe der jungen Männer wie auch der passend erscheinende Verwandte unter der Brücke dienen in diesem Sinne sicher nicht nur der Befriedigung der Neugier sondern vorrangig der Kontrolle, wie sie das strenge Ehrregime erfordert.

Familienstand

Zum Familienstand ist zu sagen, dass es in traditionellen türkischen Verhältnissen eine sehr große Rolle spielt, ob man verheiratet ist oder ledig. In der traditionellen türkischen Gesellschaft bedeutet Heirat besonders für die männlichen Partner Statusverbesserung, ein unverheirateter Mann hat nirgendwo Mitspracherecht, ein Mädchen schon gar nicht. Das Heiratsalter ist für unsere Begriffe sehr früh, besonders für Mädchen. Da sie häufig nur die obligatorischen fünf Jahre Schulbesuch absolvieren, leben sie danach solange als Mitläufer in ihrer Familie, bis sie heiraten, daher versuchen die meisten Eltern, sie früh unter die Haube bzw. das Kopftuch zu bringen.

Ökonomische Verhältnisse

Der Lebensstandard der Familien mit den außerhalb arbeitenden Vätern ist sichtbar höher, sie haben größere Häuser, Elektrizität und die entsprechenden technischen Geräte wie Fernseher und Telefon, die Kinder haben Spielzeug und sind modern gekleidet. Dieser Teil der Dorfbewohner hat die Überlebensfrage für sich gelöst durch berufliche Arbeit, nimmt sein Leben in die eigene Hand, trifft eine Wahl, nimmt z.B. die eingeschränkte Wohnlage in Kauf, um andere Vorteile wie gutes Klima, Ruhe und geruhsames Verbringen der Tage ohne Hektik zu erleben. Auch hier werden noch Wünsche und Bedürfnisse geäußert nach Verbesserungen der Lebensqualität im Bereich des Komforts, wie Waschmaschinen, der Möglichkeit anzubauen, um mehr Wohnraum zu schaffen, usw. aber insgesamt wird eine gewisse Zufriedenheit mit der persönlichen Lage sichtbar. Die anderen Familien leben meist in Einraumhütten, d.h. hauptsächlich wird darin geschlafen, das restliche Leben spielt sich im Freien ab. Dazu gehört das Kochen auf einfachen Feuerstellen ebenso wie das Waschen der Kleidung wie auch das Baden der Kinder in kleinen Zubern. Die Kinder laufen meist barfuss, ihre Kleidung ist sehr verschlissen. Der Lebensunterhalt wird auf traditionelle Art durch landwirtschaftliche Tätigkeiten in sehr kleinem Maßstab wie das Halten von ein paar Ziegen und Hühnern sowie dem Bewirtschaften eines kleinen Feldes gesichert. Mancher dieser Familienväter hatte es versucht, in der Stadt mit bezahlter Arbeit das Überleben zu gewährleisten, z. B. als Bäcker in einem Fall oder in der Tourismusbranche in einem anderen, konnte aber dort nicht leben und kehrte resigniert zurück ins Dorf. Die herkömmliche landwirtschaftliche Lebensweise reicht nur für ein sehr eingeschränktes Leben, Bargeld kann kaum erwirtschaftet werden, so dass auch keine neuen Bedürfnisse erfüllt werden können. Die Äußerungen über das Leben klingen resigniert und missmutig.

Deutungsmuster

Drei Erklärungsmodelle traten besonders deutlich hervor und sollen im Folgenden dargestellt werden.

1. „Negatividentität“ Die anderen sind schlecht“, nur dadurch kann ich gut sein

2. „Unmündigkeit“ Die anderen sind „Schuld“ an der eigenen Lage, Die Ahnen, die Väter, der Nationalpark, das Schicksal, die Gerechtigkeit

3. „Rettung vor dem Dorf“ – Die Zukunft liegt in der Stadt und in der Bildung

1. Negatividentität „Die anderen sind schlecht“

Abgrenzung und Ablehnung gegeneinander bis hin zu Feindlichkeiten beherrschen das Denken der Dorfbewohner und verhindern scheinbar die Möglichkeiten der Solidarität und des Zusammenhalts aber auch die Möglichkeit der persönlichen Weiterentwicklung auf die Frage nach ihrem jeweiligen Leben formulieren viele Dorfbewohner in erster Linie nicht ihre persönlichen Lebensumstände und Anschauungen sondern schildern erst einmal ausführlich, wie schlecht die anderen in ihrer Umgebung sind „Die Leute lästern übereinander und verraten sich gegenseitig.. die Nerven liegen blank“ Ob sie zu viel „kriegen“, weil sie an einem strategisch günstigen Platz ihr Cafe betreiben, in ihrem Garten Männer empfangen, ihnen Tee servieren, wenn sie eine Frau sind, oder viele Kinder haben, die auch nicht gut in der Schule lernen, erst einmal wird sich lang und breit darüber ausgelassen, dass man nur von schlechten Menschen umgeben ist. Die einen werden beneidet „Der Mann, der die Tickets verkauft, kassiert pro Kopf drei Millionen und wir können nicht profitieren…“, die anderen bedauert; „die wissen es ja nicht besser, weil die ungebildet sind“, aber negativ dargestellt werden sie alle, man grenzt sich ausdrücklich von ihnen ab, nur darüber kann man die eigene „bessere“ Lebensqualität darstellen. Grundsätzlich fällt es allen Befragten schwer, persönliche Vorstellungen und eigene Bewertungen direkt auszudrücken, es geht eigentlich immer über den Umweg, erst einmal über die Darstellung der anderen zu beschreiben, wie man nicht ist. Dabei fällt auf, dass diejenigen, denen es wirtschaftlich besser geht, mit Verachtung auf die anderen „Dörfler“ schauen „Ich kann hier nirgendwo richtig hin… die hier im Dorf, die kennen das nicht“ während die, die sich kaum etwas leisten können, mit schelen Blicken den Erfolg der anderen beobachten und die fehlende Gerechtigkeit anprangern, die daran Schuld sein muss (Vgl. Absatz „Die anderen sind Schuld“) Die eigene Person wird nicht als eigenständige, unabhängige Einheit gesehen, sie kann nur vor dem Hintergrund der anderen Kontur gewinnen, sozusagen als Kontrast dessen, was man nicht ist. Die Darstellung der anderen als negativ muss zwangsläufig die gute Seite der eigenen Person/Position enthüllen, Der Effekt ist der einer Abziehfolie, ist der schwarze Rand weg, bleibt der weiße Rest sichtbar stehen. Diese Identität, die aus dem Vergleich mit negativ dargestellten Referenzgruppen nur schattenhaft entsteht, nennen wir Negatividentität.

2. Unmündigkeit – „Die anderen sind Schuld“

In den meisten Ausführungen zur persönlichen Lage wird deutlich, dass ein traditionales Schicksals- bzw. Abhängigkeits– und Ergebenheitsdenken noch tief verankert ist. An aller misslichen Lage lässt sich schnell der Schuldige nennen: Der Nationalpark ist daran schuld, dass es dem Dorf insgesamt schlecht geht, Die Nationalparkbestimmungen werden von den meisten Befragten (Ausnahme: Frauen an der Brücke, die erhoffen sich von der externen administrativen Leitung des N.P. die Beendigung der Streitereien im Dorf) als Ursache allen Übels angegeben, die Bestimmungen werden nur negativ gesehen, die Gebote und Verbote sind die Ursache für alle Unannehmlichkeiten, man selber kann daran nichts ändern und hat auch nichts damit zu tun. Die Ahnen sind dafür verantwortlich, dass man in diesem abgelegenen Dorf festsitzt, sie waren so dumm, sich hier niederzulassen! Nun sitzt man in diesem Dorf fest und hat Pech gehabt, selbst handeln und den Fehler der Ahnen korrigieren beispielsweise durch Wegziehen ist keine denkbare Alternative. Und die fehlende Gerechtigkeit ist dafür verantwortlich, dass manche mehr kriegen als andere. Sie muss dafür herhalten, dass man selbst nicht verantwortlich ist für die persönliche Lage, es gibt eben keine Gerechtigkeit, also kann und braucht man auch nichts zu tun. Die Väter sind diejenigen, die verhindern, dass die Mädchen nicht zur Schule gehen können, „sie haben mich nicht geschickt“( ). Hier jedoch wird eine Veränderung sichtbar, ein Wandel zur neuen Perspektive, die Mädchen diskutieren bzw. streiten mit den Vätern, wie sie schildern, geben aber dann doch nach, wegen der „Harmonie, für die immer die Frauen zuständig sind, und um ihnen (den Vätern) nicht „das Herz zu brechen“( ). Doch gibt es auch schon kleinen Siege, zwei der damals interviewten Mädchen dürfen inzwischen in einen nah gelegenen Stadt arbeiten, wie wir bei unserem letzten Besuch im Dorf (März 2005) erfahren. Aber auch für alle sonstigen Belange im Leben lässt sich einer anderen Instanz die Verantwortung zuordnen, beispielsweise erhoffen sich ein paar Frauen von den abstrakten Nationalparkbestimmungen die Lösung für die Situation im Dorf, dass die Streitereien ein Ende haben und die Menschen zur Ruhe kommen. Sie erwarten die Lösung nicht von den Menschen selbst, ihrer Vernunft, dieser Schritt wird noch nicht gedacht. Unsichtbare Autoritäten lenken die Geschichte, man selber ist nur Spielball im Geschehen, nicht aktiv agierende Person. Die in ihren eigenen Augen Benachteiligten formulieren ihre Resignation, sie hoffen auf Rettung von außen, von einer Behörde oder Institution ohne irgendeine form von Eigeninitiative zu entwickeln.

3. Rettung vor dem Dorf

In allen Aussagen über das Leben im Dorf finden sich Hinweise auf die Vorstellung das Dorfleben sei rückständig und überholt. Jeder sollte versuchen, dieses Leben hinter sich zu lassen und sich „aus dem Dorf zu retten“ ist die allgemeine Meinung. Zur Rettung sind zwei Bedingungen unerlässlich, die eine ist eine gediegene Schulbildung „sie(die Kinder) müssen lernen, um sich zu retten“, die andere das Verlassen des Dorfes zugunsten des Lebens in der Stadt „Im Dorf hat man keine Zukunft “ oder beides in einem Zitat: „Wer lernt, kann sein Leben retten, und von hier verschwinden“. Im Dorf selbst sieht niemand eine Perspektive, die Landwirtschaft bietet kein Auskommen mehr, die Arbeit ist schwer und man gilt nichts in der Welt. Will man eine Zukunft haben, und das wissen alle, auch die Alten, dass dies eine neue Anforderung an jeden Menschen ist, die eigene Zukunft zu planen „Früher haben die Kleinen ihr Unwesen in den Bergen getrieben, heutzutage denkt schon das kleinste Kind darüber nach, was aus ihm werden soll“ Wer teilhaben will am besseren Leben muss das Dorf verlassen, alte Wege verlassen, die Traditionen hinter sich lassen, und in der Stadt zurechtkommen können. Die Stadt ist der Ort, wo man mit den Mitteln einer guten Schulbildung die Möglichkeiten zur Verbesserung der Lebenssituation nutzen kann. Die jungen Frauen würden alle auf der Stelle zugreifen, wenn sich die Gelegenheit bietet bzw. wenn die entscheidende Autorität zustimmt, sie belagern und bearbeiten die Väter in diesem Sinne. Die Elterngeneration ist hin und hergerissen zwischen dem Wissen um die Notwendigkeit der Bildung und Ausbildung und der Furcht vor den Gefahren, die aus den unkontrollierbaren Verhältnissen in weit entfernten Orten entstehen.

Handlungsmuster

Die Handlungsmuster entspringen bis auf das erste, „Abhauen“ genannt, weniger den Interviewinhalten, als unseren Beobachtungen, die wir unabhängig von den Befragungen im Dorf machen konnten. Das Thema Abhauen spielte bei fast allen Befragten eine Rolle, wurde von den Frauen immer wieder ausgeführt und hat in diesem Dorf eine besondere Tradition, war aber insgesamt das einzige wirklich thematisierte Handlungsmuster. Die anderen beiden Muster spielten sich vor unseren Augen ab und zeigen deutlich die verzwickte Lage der Bewohner. Einmal die Schwierigkeit, im Dorf selbst neue Wege zugehen, verbunden mit den Auswirkungen der traditionalen Verhaftung in einer kollektiven Mentalität – nachmachen – genannt und zum zweiten eigentlich eher das Gegenteil von Handlungsmuster, nämlich die Entscheidung, lieber nicht zu handeln, -Lieber Nichts tun- genannt, verbunden mit der oben beschriebenen Negativreferentialität – die teilweise alle Entwicklungsfähigkeit und Rationalität blockiert.

Diese drei Muster stellen wir im Folgenden dar.

1. Heiratsmuster: Abhauen und die Tradition umgehen

2. Teestube oder Ketten, alle machen dasselbe

3. Nichts tun – sonst profitiert ja der andere

1. Heiratsmuster „Abhauen“

Schon am ersten Morgen hatten wir in einer Interviewsituation gehört, dass ein Mädchen „abgehauen“ sei, dies war ständiges Gesprächsthema über den ganzen Tagesverlauf.

Das „Abhauen“ ist eine gängige Praxis im Ort, eine Heirat zu erzwingen, die auch dazu dient, die anfallenden Kosten für die Eltern niedrig zu halten, weil die Schwiegereltern auf diese Weise keine Forderungen stellen können. Der Nachteil besteht aber darin, dass sich in der Regel die beiden Familien darüber verfeinden. Das Mädchen und der junge Mann gehen zusammen – nach heimlicher Verabredung – an einen unbekannten Ort, und bleiben dort über Nacht. Nun kann nur noch die unvermeidliche Heirat die Schande tilgen und die Ehre der Familien, insbesondere der des Mädchens, wieder herstellen. Auf diese Weise umgehen die jungen Menschen die Praxis, einen von den Eltern ausgewählten und vorgeschlagenen Kandidaten, der häufig aus verwandtschaftlichen Verhältnissen stammt, oder aber auch ganz fremd ist, zu akzeptieren und zu ehelichen. Das „Abhauen“ ist die einzige Möglichkeit, mit einem selbst erwählten Partner die Ehe einzugehen. Es scheint aber auch die einzige Chance zu sein, aus dem restriktiven Überwachungsapparat des Elternhauses zu entkommen. Die Heirat selbst findet dann im kleinsten Kreis innerhalb der Familie des Mannes statt, da die junge Frau jetzt zum Haushalt der Schwiegermutter gehört, und ihre eigene Familie die Hochzeit nicht ausrichten kann, da beide Familien nun „verkracht“ sind, wie es unsere junge Informantin ausdrückt. Wie schon beschrieben, ändert sich der Status einer Person mit der Heirat. Es ist für die Jungen und Mädchen im Dorf erst einmal der einzige Weg, in den „Erwachsenenstatus“ zu wechseln, wahrgenommen zu werden als Person, die eine Stimme hat.

2. „Nachmachen“

Einige der Dorfbewohner haben den Wert der Touristen als Geldquelle entdeckt. Dabei zeigt sich ein Phänomen, dass wir „Nachmachen“ genannt haben. Es scheint so zu sein, dass eine Idee, die jemand hat, und die er anscheinend erfolgreich vermarktet, sofort von mehreren Personen kopiert wird und nun von dem halben Dorf praktiziert wird. Wenn sich ein Bus mit Touristen dem Dorf nähert, strömen die Frauen aus allen Richtungen herbei und bieten handgemachte Ketten und Armreifen an. Diese sind alle nach dem gleichen Muster gemacht, man findet keine unterschiedlichen individuellen Anfertigungen. Die Auswahl muss der Tourist danach treffen, welche Frau ihm sympathisch ist, oder ihm gerade am nächsten steht, oder vielleicht auch ihn am wenigsten bedrängelt, es ist seine persönliche Entscheidung, wem er etwas abkauft, nicht was er kauft, das ist nicht entscheidend, denn es ist alles gleich. Des weiteren sprießen in dem kleinen Dorf alle paar Schritte Teestuben aus dem Boden, ein Tisch, ein paar Stühle, fertig ist das Angebot. Einer fängt es an, sogleich gibt es viele Nachahmer. Die Kinder sind darauf spezialisiert, mit einigen Brocken erlernter deutscher Sprache die Touristen herumzuführen, sie laufen im Rudel mit und überbieten sich gegenseitig.

3. „Lieber Nichts tun“

Am Rande des Dorfes liegt auf einer idyllischen Wiese ein verrosteter LKW halb auf der Seite. Der Lehrer erzählt uns die Geschichte dazu. Der Weg zum Dorf herauf ist von vielen tiefen Schlaglöchern verunstaltet und macht das Chauffieren sehr mühsam und teilweise auch gefährlich. Dem Dorf wurde von der zuständigen Verwaltung ein LKW voll Füllmaterial für die Löcher zur Verfügung gestellt, das sollten die Dorfbewohner allerdings selbst in die Hand nehmen. Das wurde nichts, denn niemand war bereit, sich für diese Arbeit zur Verfügung zustellen. Also steht der LKW seitdem immer weiter zuwachsend auf der Wiese und wartet auf bessere Tage. Auf diese Tatsache angesprochen, äußerten sich die Befragten im folgenden Sinne: „Wenn ich das jetzt mache, die Straße zu verbessern, dann hat ja der, der jetzt nichts tut, auch etwas davon, obwohl er nichts macht, also tue ich es auch lieber nicht, so blöd bin ich nicht.“

Auch wenn bei einem kleinen Kind das Augenlicht durch eine Verletzung bedroht ist, wie in einem von uns beobachteten Fall, wird nichts unternommen, weil es sowieso so kommt, wie Allah es bestimmt hat, da braucht man nicht die Strapazen einer Reise hinunter in die Stadt zu unternehmen.

Fazit

Insgesamt ist keine einheitliche Dorfmentalität oder Identifizierung mit dem Dorf zu erkennen, es gab keine Aussage wie beispielsweise „Wir Selger sind so“ oder „hier in Selge machen wir das immer so“ oder „Mein bzw. unser Dorf…“ statt dessen reden sie über einander als „die da“ oder „manche“, sie grenzen sich voneinander ab und wir erfahren, dass sie sich sogar regelmäßig gegenseitig bei der Polizei anzeigen und wo sie können, behindern. Einigkeit herrscht nur im Widerstand gegen den Nationalpark, er wird besonders von den älteren Dorfbewohnern als Ursache allen Übels bezeichnet. Er dient durch seine Manifestation als gemeinsamer Feind zwar allen gleichermaßen, liefert den Grund für ihre missliche Situation, er ist verantwortlich für die niedrige Lebensqualität, stiftet aber keinen weiteren Zusammenhalt. Die Ablehnung der Nationalparkbestimmungen bleibt die einzige Gemeinsamkeit, es gibt keine Ansätze zu Zielen in der Gestaltung der gemeinsamen Lebensbedingungen wie Reparatur der Straße, gemeinsame Forderungen nach einer Wasserleitung oder was auch immer.

Durch die verstärkte Verbindung mit der Außenwelt bzw. durch die Veränderungen, den Wandel in der Welt sind für die Dorfbewohner bisherige Lebensweise und Orientierungsrahmen in Frage gestellt worden. Insgesamt verändert sich der Maßstab, welcher darüber entscheidet, was richtig und was falsch ist, an dem Handlungen, Lebensbedingungen und Menschen überhaupt gemessen werden. Dieser Maßstab, der sich aus dem Vergleich der eigenen Lebensbedingungen mit der der Außenwelt ergibt, wird durch die gewaltige Erweiterung der Außenwelt durch die Veränderung der äußerlichen Bedingungen stark verschoben und in Frage gestellt Das hat Auswirkungen auf den Ebenen der Wahrnehmung und damit verbunden der Wünsche und Bedürfnisse. Haben sie früher in den Tag hineingelebt, die anfallenden Tätigkeiten verrichtet ohne dabei ihre Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit zu hinterfragen oder sich über Optimierung und Veränderung der Abläufe Gedanken zu machen, so empfinden sie heute dieses Leben als unzureichend, nicht mehr den Anforderungen angemessen, so formulieren sie es Unser Alltagsleben verläuft meist sinnlos, wir sitzen leer“. Die Dorfbewohner sind gezwungen, von außen kommende Veränderungszumutungen zu akzeptieren ohne selbst Gestaltungsprinzipien erlernt zu haben, bzw. gelernt zu haben, selbst aktiv zu gestalten oder beispielsweise kritisch zu hinterfragen, d.h. sie haben noch keine Gestaltungsspielräume. Das Wissen der eigenen Unvollkommenheit (Ich bin ungebildet) ersetzt die Selbstgewissheit. Die Großelterngeneration, die kaum über Schulbildung verfügt, aber auch die Elterngeneration bezeichnen sich selbst als ungebildet. Sie empfinden das heute als Makel, was früher, als Kinder für sie noch selbstverständlich war. Sie machen daran ihre Lebensumstände, die sie als armselig empfinden fest. Heute, wo sie wissen, dass „man etwas wissen muss“, können sie nicht mehr mitreden, sie können es nicht nachholen und haben keine Hoffnung auf Veränderung. Diese Veränderung müsste von außen kommen, so denken sie, jemand müsste die Rettung vor diesem „öden ärmlichen Dasein“ bringen, so ihre Gedanken. Die Ahnen sind schuld, die sich hier niedergelassen haben“, sie hätten es besser machen müssen, dann müssten die Nachkommen heute nicht an diesem öden Ort ausharren, so der Tenor. Gleichzeitig wissen sie aber auch, dass es doch irgendwie gehen muss, es muss mit der Schule zusammenhängen, ist ihre Meinung, also wälzen sie die ganze Verantwortung auf die Kinder ab, durch einen ungeheuer hohen Druck, etwas zu leisten in der Schule, sie sollen die Rettung bringen, die sollen in der neuen Welt Fuß fassen und sie selbst ein Stück mitnehmen. Die junge Generation, die zum Teil schon mehr als die obligatorische Schulpflicht absolviert hat, ist im Sinne der älteren Generationen nicht mehr ungebildet, aber diejenigen, die noch im Dorf leben, sind noch kaum einen Schritt weiter als ihre Vorgänger. Sie wissen ebenfalls, dass sie so einfach nicht herauskönnen aus der Situation. Sie machen nicht die fehlende Bildung dafür verantwortlich, sondern die alte, traditionelle Lebensweise, die sie nicht in die Freiheit lässt. Was den Eltern und Vorgenerationen noch als unersetzbare bzw. nicht hinterfragbare Ordnung erschien, empfinden sie als sinnlosen Zwang, dem sie entkommen wollen/müssen. Speziell die Mädchen und jungen Frauen klagen „Sie haben mich nicht geschickt, sie lassen mich nicht, sie brechen mir das Herz“ usw. Sie wissen, dass es bei anderen anders ist, dass dort –nämlich in der Stadt – Mädchen in Boutiquen arbeiten können, als Friseurin oder mit der entsprechenden Schulbildung sogar als Lehrerin, ein Traum für die Mädchen vom Dorf. Sie wissen, dass man sogar eine eigene Wohnung haben kann, wenn man erst einmal den Verhältnissen des Dorfes entkommt, und in Deutschland kann man sogar den Mann, den man will, erst einmal kennen lernen, als Freund haben, ohne gleich zur Ehe gezwungen zu sein, das wissen sie alles. Daher empfinden sie ihr eigenes Leben als leer, unausgefüllt, ohne Sinn. Weder die häuslichen Pflichten noch Aussicht auf eine Ehe erscheint ihnen sinnvoll, die Leere entsteht aus dem Bewusstsein, festgehalten zu werden nicht so zu leben, wie es die neue Welt verheißt. Auch ihnen kommt es (noch) nicht in den Sinn, eigenständig zu handeln, sich selbst zu befreien, sie sitzen und hoffen, aber resignieren. Das Nicht-Wissen bringen sie nicht in Zusammenhang mit Nicht-Handeln. Sich entschließen können selbst etwas zu tun, kommt ihnen nicht in den Sinn. Die Verhältnisse sind eben gegen sie, daran ist nichts zu ändern. Das Wissen von der Veränderung der Welt führt nicht automatisch zu dem Wissen, wie man unter den neuen Bedingungen zu handeln hat, das kulturelle Muster, das selbstverständlicher Bezugsrahmen gewesen ist, reicht für die neue Lebensorganisation nicht mehr aus Hilflosigkeit ist häufig die Reaktion auf die sich verändernden Bedingungen. Sie führt zu Depression und Resignation sowie Fatalismus, Neid und Misstrauen. Das Gefühl, nichts wert zu sein in dem neuen Maßstab, schränkt die Handlungsfähigkeit ein, lässt Hoffnungslosigkeit aufkommen, der nichts entgegengesetzt werden kann.

Die sich verändernden äußeren Bedingungen verändern die Wahrnehmung der Dorfbewohner, bringen neue Bedürfnisse hervor, verändern auch die Gefühle und die Vorstellungen, wie man leben möchte.

Die Bedürfnisse: Die Wahrnehmung anderer Lebensweisen schafft bei den Dorfbewohnern neue Bedürfnisse,

• nach mehr Bequemlichkeit, mehr Komfort durch Wohnraum, Wasserversorgung, den Bau/ Anbau von Sanitärräumen, Küchen im Haus, nach technischen Errungenschaften wie Fernseher, Waschmaschine, Mehrere Frauen sprechen die Bedeutung von Sauberkeit und Hygiene an, die bei dieser Lebensweise nicht gewährleistet werden kann. Ein ganz großes Bedürfnis besteht nach fließendem Wasser, das von allen Bewohnern einschließlich der Schule, die ebenfalls ganz ohne Wasserversorgung dasteht, in Kanistern, Eimern und Kannen von den Zapfstellen im Dorf geholt werden muss. Das ist sehr umständlich und mühevoll, man muss immer sehr rationell mit dem wertvollen Wasser umgehen, das geht auf Kosten der Hygiene meinen sie. Die Dorfbewohner fühlen sich im Stich gelassen und von den Behörden hingehalten, zumal als Kontrast ein modernes luxuriöses Toilettenhaus am Dorfeingang steht, das verschlossen ist, es scheint also eine Wasserversorgung möglich zu sein.

• Handis als Statussymbol oder Fähigkeiten wie Autofahren, Gitarre spielen, usw.

• mehr persönlicher Freiheit, in Form von freier Partnerwahl beispielsweise, einer Wohnmöglichkeit abseits der Herkunftsfamilien, der Freiheit sich nach persönlichem Geschmack zu kleiden, zu schminken sich eben individuell verhalten zu können, sein Leben nach eigenen Vorstellungen realisieren zu können.

• der Möglichkeit der Berufsausbildung oder mindestens Arbeit(Mädchen speziell) der Möglichkeit von Bildung und Ausbildung als Grundlage für eine adäquate erwünschte Lebensführung, mehr Spielraum durch Geld verdienen.

Die Gefühle: Die Kontrastierung zwischen den Lebensbedingungen im Dorf und der ständig eindringenden Außenwelt erzeugt und verändert Gefühle:

Scham und Peinlichkeit werden häufig genannt in den Interviews. Selbstverständlichkeiten werden zu Peinlichkeiten, wie das Schlafen in einem Raum,. die Toilette im Hinterhof, die fehlenden Schulutensilien usw. „Früher waren es die Menschen zufrieden, alle in einem Raum zu schlafen“, erläutert eine Frau, „heute geht das nicht mehr, sie schämen sich“ Manchmal richtete sich die Scham gegen mehrere Seiten gleichzeitig, war eine doppelte Falle – man schämte sich gegenüber dem Lehrer, weil man nicht alles in Ordnung hatte, und konnte es aber auch zu Hause nicht anbringen, schämte sich vor den Eltern, bzw. wusste, dass man diese fürchterlich beschämen würde, wenn man diese Scham thematisieren würde “…es war nie perfekt, und wir schämten uns vor dem Lehrer, aber unseren Eltern konnten wir das auch nicht sagen, sie hatten ja auch nicht die Mittel,…“.

Neid entstand an der Stelle, wo sich Verbesserungen in der Lebensqualität für einzelne Familien ergaben.

Schlussbemerkung

In diesem weit von der Welt abgeschiedenen Dorf läuft das Leben noch langsam, wie es der Lehrer ausdrückt, „Die Uhren gehen langsam hier“. Nichtsdestotrotz findet die Begegnung mit der modernen Welt statt und verändert das gesamte Leben. Die traditionelle Alltagsgestaltung wird nicht mehr als ausreichend empfunden sondern als rückständig und nicht mehr passend. Erste Schritte auf dem Weg in die moderne Zeit führen über den Vergleich mit anderen, der Erkenntnis, diese sind anders als „ich“, und damit zu ersten unbewussten Individualisierungstendenzen. Die Möglichkeit Selbstbewusstsein und Identität zu entwickeln, entsteht mit der Herauslösung der einzelnen Person aus der traditionellen kollektiven Identität und der damit verbundenen Herstellung eigener, individueller Identität. Dieser Weg ist angedeutet und auf unterschiedliche Weise ausgeprägt sichtbar. Auch die modernen technischen Errungenschaften leisten ihren Beitrag und am deutlichsten formuliert es unsere Gastgeberin im Teegarten, als wir darüber sprechen, dass die Mädchen keine Chancen haben, ihre angehenden Partner kennen zu lernen: „Heute umgehen sie die Kontrolle, sie haben Handys, schreiben SMS und tauschen alles Mögliche an Gefühlen aus…“bemerkt sie trocken in die Diskussion hinein.

Netphen 2010

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